75 Jahre nach dem Bombenangriff auf Kassel: Die Tränen der Volksgenossen und die Unfähigkeit in Kassel, einer notwendigen militärischen Maßnahme gerecht zu werden.

Ein am Angriff auf Kassel beteiligter Lancasterbomber und seine Besatzung
Kassel war, wie andere deutsche Städte, mehrfach Ziel alliierter Bombenangriffe. Das Datum der gründlichsten Bombardierung Kassels jährt sich in diesem Jahr zum 75. Mal. Dies ist Anlass für eine von der HNA vorangetriebene Erinnerungsoffensive. In der HNA widmet man sich seit geraumer Zeit in regelmäßigen Abständen und in dichter werdender Folge diesem Thema mit ganzseitigen Ausführungen. Auf der Internetseite der Zeitung gibt es sogar eine eigenständige Rubrik zum Thema. Darüber hinaus hat der ehemalige Redakteur der HNA Horst Seidenfaden zusammen mit Harry Soremski (Extra-Tip) einen opulenten Band über die Erinnerungen der vom Bombenangriff betroffenen Kasseler herausgebracht. Der HNA-Journalist Thomas Siemon zog ein paar Monate später mit einem kleineren Bändchen nach. In beiden Bänden kommen sogenannte Zeitzeugen zu Wort. Seidenfaden und Soremski fügen noch weitergehende Ausführungen bei, die zur historischen und politischen Einordnung der Berichte ihrer „Zeitzeugen“ und des Angriffs auf Kassel aber buchstäblich nichts beitragen. Die Berichte der „Zeitzeugen“ drücken par excellence das aus, was den nach Deutschland einmarschierenden Alliierten unangenehm auffiel, als sie 1945 auf die Deutschen trafen: Empathielosigkeit, Selbstbezogenheit, Sentimentalität, Selbstviktimisierung und die Leugnung Nazi gewesen zu sein. Die Chronisten des Angriffs auf Kassel kommen so gut wie ohne Bezug zum Nationalsozialismus aus, kennen keine Nazis, sondern nur noch Opfer und sind zu Tränen gerührt. „Trümmer, Tod und Tränen“ heißt der eine, „Diese Tränen trocknen nie …“ der andere Band.
I. Der Luftkrieg gegen Deutschland – Eine Voraussetzung des Sieges über Nazideutschland
Die Luftangriffe auf Deutschland waren – von 1940, dem Fall Frankreichs bis 1943, der Landung der Alliierten in Sizilien – abgesehen von der „Atlantikschlacht“ und einigen Nebenkriegsschauplätzen die einzige Möglichkeit der Westalliierten direkt militärisch gegen Nazideutschland vorzugehen. Von 1941 bis 1943 trug auf dem europäischen Kontinent die Rote Armee die Hauptlast der Kämpfe gegen die Wehrmacht. Die Ausweitung der Luftangriffe der Westalliierten auf Deutschland trug dazu bei, dass beträchtliche Teile der deutschen Luftwaffe von der Ostfront abgezogen wurden. Somit entlasteten die Westalliierten die sowjetische Luftwaffe, der es im Laufe des Jahres 1943 gelang, die Lufthoheit an der Ostfront zu erringen. Insgesamt gelang es den alliierten Fliegerverbänden nach und nach, die deutsche Luftwaffe nachhaltig zu schwächen. Die Lufthoheit ist für erfolgreiche Bodenoperationen eine unabdingbare Voraussetzung und war Bedingung für die im Sommer 1944 vorgetragenen erfolgreichen und kriegsentscheidenden Offensiven in Weißrussland (Operation Bagration) und in der Normandie (Operation Overlord). Diese wichtigsten Ergebnisse der alliierten Luftkriegskampagne gegen Deutschland werden im Allgemeinen völlig ignoriert. Den Autoren über die „Bombennacht“ dürfte dieser Sachverhalt offensichtlich unbekannt oder gleichgültig sein.
Ein wichtiges Ziel alliierter Bomberverbände waren die Rüstungsindustrie und die Infrastruktur des Nazireiches. Die Angriffe störten die deutsche Rüstungsproduktion jedoch in geringerem Maß als angenommen und trotz einiger spektakulärer Erfolge, wie die gelungenen Angriffe auf die Edertal- und Möhnetalsperre, gelang es den Alliierten erst gegen Ende des Krieges die Verkehrs- und Energieinfrastruktur des deutschen Reiches lahm zu legen. Die Alliierten erreichten es auch nicht, wie ebenfalls beabsichtigt, die Moral der deutschen Bevölkerung zu brechen. Vor allem dies wird in Deutschland gegen die Luftkriegsstrategen vorgebracht. Dieser Misserfolg dient als Beweis der Nutzlosigkeit und der gleichzeitig attestierten Grausamkeit alliierter Bombenangriffe. Jenes Argument entbehrt jedoch jeder Grundlage, denn entgegen jeder vernünftigen Annahme, ließ sich die deutsche Volksgemeinschaft trotz der Zerstörung vieler ihrer Städte nicht dazu bewegen, von Judenmord und Vernichtungskrieg abzulassen. 1918 noch trugen Hungersnot und andere Entbehrungen dazu bei, dass sich die deutsche Bevölkerung zunehmend der weitaus harmloseren Kriegspolitik des Kaiserreichs widersetzte.
Der Luftkrieg wurde gegen eine Nation geführt, die die Volksgemeinschaft nicht nur propagierte sondern auch formierte und die den totalen Krieg ausgerufen hatte, den sie bis zum 8. Mai 1945 unerbittlich führte. Entgegen immer wieder kolportierten Behauptungen, der Luftkrieg sei gegen eine unbewaffnete und wehrlose Bevölkerung geführt worden, fügten die deutsche Luftwaffe und Flugabwehr den Alliierten schwerste Verluste zu. Mehr als 100.000 alliierte Bomberbesatzungen kamen bei ihren Einsätzen gegen Nazideutschland ums Leben. Die Bomberpiloten zogen einen massiven Beschuss auf sich. Die in großen Mengen im Land aufgestellten Geschütze und die Massen in die Luft geschossene Munition fehlten der Wehrmacht an anderer Stelle. Auch dies war letztendlich ein Beitrag, der zum Erfolg der alliierten Bodenoperationen beitrug, freilich zu einem hohen Preis unter den jungen Fliegern.
Im Gesamtkontext bleibt die Schlussfolgerung, dass der Luftkrieg als Bestandteil des notwendigen Krieges gegen Nazideutschland bis zur Kapitulation eine notwendige, richtige und letztendlich auch eine effektive Maßnahme war.
II. Nationalsozialismus und Volksgemeinschaft

„… Achtung, Achtung, wir geben eine Luftwarnmeldung …“, der Leser fühlt sich in die Reihen der deutschen Familie versetzt und meint den „Volksempfänger“ hören zu können.
Auf einer Doppelseite wird in Seidenfadens und Soremskis Band in großem Format der „Volksempfänger“ abgebildet. Etwas kleiner daneben ein, in nationalsozialistischer Ästhetik gehaltenes Bild einer Familie. Sie wird als „Arbeiterfamilie“ bezeichnet. Auch wenn es schon vor 1933 Radios und Familien gab, der Volksempfänger, die Abbildung desselben, sowie Bilder der einträchtig lauschenden deutschen Familie spielten eine wichtige Rolle in der Propaganda von der Volksgemeinschaft. Dieser Zusammenhang wird nicht erläutert. Berichtenswert ist den Autoren nur, dass die Kasseler das Gerät dazu nutzten, die Meldungen über die einfliegenden Bomberverbände zu verfolgen. Die Funksprüche werden zitiert. Sie sind in einem anderen Textformat gedruckt, so dass man sie zu hören meint: „Achtung, Achtung, hier ist der Befehlsstand der ersten Flakdivision“ usw. Der Leser sieht förmlich die Lautsprechermembran des Volksempfängers vibrieren und sich unter die Volksgenossen versetzt.
In beiden Büchern geht es hauptsächlich darum „Zeitzeugen“ zu präsentieren. Was wir also vor uns liegen haben ist Oral History, nur dass die grundlegende Methodik dieser historischen Betrachtung auch nicht annähernd eingehalten wird. Es fehlt durchweg die professionelle Distanz zu den Berichtenden. Völlig ungenügend ist bei Seidenfaden und Soremski die kritische Einordnung des Erzählten in den historischen Kontext, bei Siemon fehlt dies völlig. Die „Zeitzeugen“ sprechen zu lassen, hat zwar tatsächlich etwas mit Authentizität zu tun, dass sie rundweg die Stimmen der damaligen Volksgemeinschaft darstellen, wird von den Chronisten jedoch entweder nicht bemerkt, oder schlicht ignoriert. So ist die ungefilterte und unkommentierte, häufig auf Emotionen setzende Reproduktion dieser Stimmen der Grundtenor sowohl Seidenfadens und Soremskis als auch des kleineren Bändchens Siemons.
Folgendes muss vom Leser, auf dessen Emotionen ungehemmt gesetzt wird, unbegriffen bleiben. Der deutsche Nationalsozialismus war im Wesentlichen eine Konsensdiktatur. Der 1933 anfänglich vor allem von Kommunisten, verschiedenen kleineren sozialistischen und anarchistischen Gruppierungen und einigen Einzelpersonen heroisch vorgetragene Widerstand gegen die Nationalsozialisten war schnell gebrochen. Die Volksgemeinschaft formierte sich so schnell, wie sich die 1933 schnell gefüllten Konzentrationslager im Laufe der dreißiger Jahre wieder leerten. Mit der Verfolgung der Kommunisten, den Kampagnen gegen „Asoziale“ und „Volksschädlinge“, mit der Etablierung des Reichsarbeitsdienstes und der Kraft-durch-Freude-Kampagne stieß das Regime auf Zuspruch in der Bevölkerung, der noch Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus einen deutlichen Widerhall fand. „Damals herrschte noch Zucht und Ordnung“, „Hitler gab uns Brot und Arbeit“, „Damals konnte man Nachts noch auf die Straßen gehen“ usw. waren häufig zu vernehmende Äußerungen der ehemaligen Volksgenossen, wenn sie mit Kritik der Jüngeren konfrontiert wurden. Der antifaschistische Widerstand war dagegen isoliert. Seine Protagonisten galten bei Vielen noch Jahrzehnte nach dem Ende des Regimes als Verräter. Der schlimmste Feind der Aufrechten war nicht etwa die GESTAPO, sondern das weit verbreitete Denunzianten- und Spitzeltum.
An zwei Stellen werden in Seidenfadens und Soremskis Buch Juden erwähnt. Ein Onkel einer „Zeitzeugin“ war mit einer Jüdin verheiratet. Der Onkel und seine jüdische Frau starben beim Angriff. Der Tod einer (sic!) Jüdin wird also in einem Buch erwähnt, das sich dem Jahr 1943 widmet. Die „Täter“ sind britische Bomber. Ein Inhaber einer Druckerei, die 1933, „als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen“, geschlossen wurde, weil Juden zu den Kunden gehörten, ist die zweite Stelle, an der erwähnt wird, dass es Juden in Kassel gab. Und es ist die einzige Stelle, an der das Jahr 1933 erwähnt wird. Dass es in Kassel vor 1933 ca. zweitausend Juden gab und 1943 keine mehr, das fällt unter den Tisch. Keiner der „Zeitzeugen“ erinnert sich daran, dass es Juden in der Stadt gab, dass antisemitische Propaganda den Alltag beherrschte, dass mit der Reichspogromnacht auch in Kassel 1938 ein Zeichen gesetzt wurde, dass spätestens jetzt alles anders als zuvor war. Keiner erinnert sich daran, dass die letzten Kasseler Juden 1942 vor aller Augen durch die Stadt zum Bahnhof auf eine „Reise“ geschickt wurden, von der sie nie wieder kamen. Antisemitismus als Bestandteil der Politik der Formierung der Volksgemeinschaft wurde von den „Zeitzeugen“ nicht als Schrecken wahrgenommen. Antisemitismus war Alltag und Normalität.
Im Frühjahr 1941, nach der Eroberung Frankreichs und vor dem Einmarsch in die Sowjetunion sah sich der Nationalsozialismus auf dem Zenit seiner Macht. Er war nicht nur die militärisch dominante Macht auf dem Kontinent, er erreichte zu diesem Zeitpunkt auch den Höhepunkt der Zustimmung in der deutschen Bevölkerung. Das war in Kassel nichts anders. Die beiden 1984 und 1987 von der IAG Nationalsozialismus an der Uni Kassel publizierten Bände „Volksgemeinschaft und Volksfeinde“ zeichnen ein detailliertes Bild der Situation in Kassel. Der Politikwissenschaftler Jörg Kammler resümierte die Situation wie folgt: „[…] Widerstandskämpfer gerieten durch Zerschlagung ihrer Gruppen […] in die Situation isolierter, gehetzter und ohnmächtiger einzelner […] Verweigerung und Aufbegehren in der Kasseler Arbeiterschaft während des Krieges [war] in erster Linie die Sache der ausländischen Arbeiter.“
Erst gegen Ende des Krieges schwand die Zustimmung zum Regime. Ein großer Teil der Bevölkerung nahm Hitler die Formierung der Volksgemeinschaft genauso wenig übel, wie die Ermordung der Juden. Nicht das unvorstellbare Ausmaß an Leid und Gräuel, dass deutsche Truppen in Europa, vor allem in Polen, auf dem Balkan und in der Sowjetunion verbreiteten, trug dazu bei, dass sich kleinere Gruppen in der deutschen Gesellschaft gegen Hitler richteten, sondern die sich ab 1944 abzeichnende Gewissheit, dass der Endsieg ein leeres Versprechen war und Hitler der dafür verantwortliche miserable Heerführer. Neben einer ausgeprägten Weinerlichkeit der besiegten Volksgenossen, für die beide Bände über die „Bombennacht“ stehen, hielt sich die Enttäuschung über Hitlers Versagen als Heerführer noch lange Jahre nach der Niederlage.
III. 1943

1943 – „Es war ein wunderschöner Herbsttag, der Himmel war wolkenlos …“
Seit 1939 zogen deutsche Verbände mordend und plündernd durch Osteuropa, über den Balkan und dann durch die Sowjetunion. Die letzten verbliebenen Juden wurden 1942 aus den deutschen Städten vor aller Augen in die Vernichtungslager deportiert. Die Volksgenossen teilten, in fester Gewissheit, dass die jüdischen Nachbarn nicht mehr wiederkehren, die Besitztümer der Deportierten unter sich auf. In fast allen Ländern Europas wurden von deutschen Trupps Juden aufgespürt, gejagt, deportiert und ermordet. In Leningrad verhungerten von 1941 bis 1943 unter der Blockade der deutschen Wehrmacht über eine Million Menschen. In Warschau wurde 1943 das Ghetto liquidiert. Die dort zusammengepferchten jüdischen Bewohner wurden zu zehntausenden in die Vernichtungslager verschleppt und der im April 1943 begonnene Aufstand der letzten verzweifelten Bewohner des Ghettos niedergeschlagen. Überlebende gab es so gut wie keine. Ein Jahr später wurde, aus Rache für den Aufstand der Bevölkerung Warschaus, die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht.1943 wurden in Auschwitz, Sobibor, Maidanek, Treblinka und Trostinez, bei unzähligen Menschenjagden und Massenerschießungen in der Sowjetunion, in Jugoslawien und in Polen Leichenberge in unvorstellbaren Ausmaß produziert. 1943 ist das Jahr, in dem in Weißrussland über 5.000 Dörfer komplett vernichtet wurden.
Hitler war 1943 seit zehn Jahren an der Macht. In Kassel jedoch war bis 1943 die Welt, so wie es beiden Erinnerungsbänden zu entnehmen ist, in Ordnung. Seidenfaden und Soremski beginnen ihr Buch mit dieser Überschrift: „Es war ein wunderschöner Herbsttag, der Himmel war wolkenlos …“. Ein entsprechendes idyllisch gehaltenes Bild von Spaziergängern an der Schönen Aussicht soll diesen Eindruck illustrieren. Die Autoren kommen, wenn sie von Kassel erzählen, aus dem Schwärmen nicht heraus. „Es war, daran erinnern sich noch heute alle Überlebenden, ein wunderschöner Herbsttag. Dieser 22. Oktober 1943.“ Seidenfaden und Soremski ergehen sich in der Beschreibung der Stadt vor dem Angriff in Superlativen. Um die Situation vor dem Angriff zu beschreiben, ist es ihnen offensichtlich wichtig zu betonen, dass die Altstadt „wunderschön“ gewesen sei. Sie schreiben von „schönsten und prächtigsten“ Gebäuden, davon, dass die Stadt 1943 „in voller Schönheit“ stand und die Innenstadt Kassels vor „Lebensfreude sprühte“. Sie schreiben von singenden Kindern, die „Bunt sind schon die Wälder“ gesungen haben, von Café-Besuchern usw.. Nicht fehlen darf natürlich der Hinweis, dass die prächtige Stadt eine 1000-jährige Stadt war. Zu dem sich aufdrängenden Zusammenhang mit dem von den Nazis propagierten Anspruch, ein 1000-jähriges Reich gegründet zu haben, fällt den beiden Autoren natürlich auch nichts ein.

Die Kasseler Innenstadt „sprühte vor Lebensfreude“
IV. Das Grauen ereilt die Stadt
Dann „ereilte“ aber „das Grauen“ die Stadt, wie es in der HNA in einer Besprechung am 19.06.2018 heißt und die „vor Lebensfreude sprühende“ Stadt war, als ob es 1933 nie gegeben hätte, „mit einem Schlag“ Geschichte. Über den „Alltag mit seinen normalen Abläufen und Routinen“ brachen eine Katastrophe und eine Tragödie herein. Seidenfaden und Soremski lassen nicht unerwähnt, dass Kassel ein wichtiges Zentrum der Rüstungsindustrie und deswegen Ziel britischer Angriffe war und sie erwähnen in einigen Zeilen auch die Besatzungen der britischen Bomber, von denen viele den Krieg nicht überlebten. Sie erwähnen stellvertretend für die, die beim Einsatz über Kassel ihr Leben ließen, das Schicksal einer Fliegerbesatzung. Genaue Zahlen nennen sie, die an anderer Stelle die gefallenen Bomben penibel katalogisieren und auflisten, jedoch nicht. Es müssen etwa 250 – 300 junge Männer gewesen sein, die beim Einsatz gegen Kassel umkamen.
Wenn es um den Zusammenhang des Angriffs und die Rolle Kassels als Rüstungsstandort geht, kommen die Autoren nicht über floskelhafte Plattitüden hinaus. Welche Rolle die Stadt und die Bevölkerung in der Nazizeit spielten, wird ganz weggelassen. So heißt es seltsam unbestimmt, „man produzierte Militärfahrzeuge“. Wer dieses man war, wozu hier Rüstungsgüter produziert wurden, wird nicht weiter ausgeführt. Der HNA-Journalist Siemon führt in einem (in Zahlen 1) Satz im Vorwort seines Bombenbändchens aus, dass der Auslöser der Zerstörung der deutsche Angriffskrieg und die Luftangriffe auf London waren. Näher wird auf Angriffskrieg und deutsche Luftkriegsstrategie auch hier nicht eingegangen.
Seidenfaden und Soremski wissen aber, dass 1943 „Luftmarschall Arthur Harris, genannt ‚Bomber Harris‘, entschieden [hatte], dass am Abend Kassel angegriffen werden sollte. Der Grund, so Seidenfaden und Soremski, „war die positive Wetterprognose.“ Gutes Wetter also war der Auslöser des Angriffs auf Kassel. Das Stichwort „Bomber Harris“, so darf man annehmen, fällt hier nicht zufällig. Wenn er diesen Namen hört, geht dem erinnerungsbeflissenen Deutschen das Messer in der Hose auf. Nähere Ausführungen zum Luftkrieg sind dann gar nicht mehr nötig, die Chronisten haben den Leser da wo sie ihn haben wollen, als Ankläger eines sinnlosen, grausamen und willkürlichen Angriffs unter dem, wie es die VVN-Kassel anführt, die Stadt und die Bewohner zu leiden hatten.
V. Das Essen und das Inferno
Es sind die Erinnerungen verschiedener damals jüngerer oder älterer Volksgenossen oder ihrer unmittelbaren Angehörigen, denen sich beide Bände ausführlich widmen. Die Autoren reflektieren und analysieren dabei in keiner Weise, was diese Leute von ihren Erlebnissen vom 22. Oktober erzählen. Auffällig ist, sie erzählen von Gulasch, von Pellkartoffeln, von Kaninchenbraten, von Jagdwurst, von Kuchen, von Pudding usw. Es sind Erinnerungen aus einer Zeit, in der vor allem die Sowjetunion systematisch geplündert und das Verhungern der dort lebenden Bevölkerung billigend in Kauf genommen wurde, teilweise sogar Ziel der deutschen Besatzungspolitik war. 1944 wiederholte sich das Gleiche auch mit den Niederlanden. Aber auch Länder wie zum Beispiel Frankreich, Griechenland und Norwegen wurden mit einer ausgetüftelten und perfiden Besatzungspolitik systematisch ausgeplündert.
Andere „Zeitzeugen“ erzählen von Café- und Kinobesuchen, von Ausflügen mit singenden Kindern usw. und verdeutlichen damit, dass für die deutsche Bevölkerung die Welt 1943 offensichtlich noch in Ordnung war. Nur die von Seidenfaden und Soremski erwähnten Todesanzeigen in den Zeitungen, die sich häufen, machen deutlich, dass etwas nicht stimmte. Es handelte sich um die immer häufiger werdenden Anzeigen der gefallenen Wehrmachtssoldaten. Wo und warum sie fielen, ist den Chronisten keine Ausführung wert.
Um so plötzlicher der Luftangriff. „Die Mutter hatte am Nachmittag im Ufa-Filmtheater noch den Film ‚Münchhausen‘ mit Hans Albers gesehen. Und dann der Angriff.“ Die britischen Flieger läuteten die „Todesstunde“ der Stadt Kassel ein und auf 1.000 Jahre Geschichte folgte der 22. Oktober 1943, „die Nacht, in der Kassel starb …“. Seitenlang liest man in beiden Büchern dann Geschichten über die in Kellern erstickten Opfer, von Leichenbergen, die wiederholt abgebildet werden, es wird von verkohlten Leichen erzählt, von brennenden Menschen, von Ruinen, vom Pfeifen und Krachen der Bomben, von im Stakkato auf die Altstadt prasselnden Bomben, von heißen Feuern in der Innenstadt, von Phosphor, von Flächenbränden, Druckwellen, Sogwirkung, von Trümmern und verwüsteten Straßenzügen. Kurz: Es wird ein Inferno beschrieben, das der massive Angriff für die Bewohner Kassels bedeutete. Dass Kriegshandlungen gegen einen hochgerüsteten, zutiefst amoralischen und zu allem entschlossenen Feind jedoch voller Gewalt sein müssen, das fällt bei dieser Betrachtung notwendig unter den Tisch. Die Erinnerungsbände sind so konzipiert, dass das Inferno für sich sprechen und Betroffenheit und Mitleid mit den leidenden Volksgenossen auslösen soll.
VI. Die „Zeitzeugen“ und der Nationalsozialismus
Auffällig ist, dass im „Alltag und seinen normalen Abläufen“ der Nationalsozialismus wenn überhaupt, dann nur sehr beiläufig vorkommt. Von Nationalsozialismus und Nazis ist bei den „Zeitzeugen“ keine Rede. Die „Zeitzeugen“ oder ihre Angehörigen waren, so wie es viele Deutschen nach 1945 behaupteten, keine Nazis. Sie waren Luftwaffenhelfer, Flakhelfer, Soldaten der Wehrmacht auf Fronturlaub oder „irgendwo in Frankreich“, sie waren als Soldaten mit Aktensichtung beschäftigt, mit Helfen beim Aufräumen oder Bergen. Andere „machten Kriegseinsatz bei Henschel“, waren Sanitätssoldaten, Wirtsleute, es gab freundschaftliche Nachbarbeziehungen „zum Fleischer, zum Bäcker, zum Inhaber des Zigarrengeschäfts […] bei dem es immer mal was Süßes gab“, es gab Straßenbahner, Wachhabende der Luftschutzwache, einen Lehrling bei Henschel-Flugmotoren, eine Verkäuferin bei Kaufhof. Dass das Kaufhaus „Kaufhof“ 10 Jahre zuvor einer jüdischen Familie gehörte und Tietz hieß, ist den Chronisten keine Erwähnung wert.
Einmal wird erwähnt, dass „die Jungs der Hitlerjugend und die Mädchen des Bundes Deutscher Mädels“ für die an der Front kämpfenden Soldaten an verschiedener Stelle einspringen mussten. Aber Hitlerjunge oder BDM-Mädel war dann jedoch keiner der „Zeitzeugen“. Man „ehelicht 1939 unter der Fahne […] Und kurz danach, am 29. September, feiert man das 50-jährige Bestehen der Gaststätte.“ Es fällt der Begriff „Kinderlandverschickung“. Ein deutscher Jagdflieger hatte „seinen ersten Einsatz während des Spanischen Bürgerkrieges mit der Legion Condor.“ Fachleute wissen, was es mit der „Legion Condor“ auf sich hat. Dem Kasseler Publikum wird die Waffenhilfe der Nazis für die blutrünstigen Franco-Faschisten, die aus Freiwilligen bestand, vorenthalten. Selbstverständlich ist auch der Angriff der Legion Condor auf die damals tatsächlich völlig wehrlose Stadt Guernica keine Zeile oder auch nur eine Fußnote wert. Über eine „Horst-Wessel-Mittelschule“ gibt es nichts weiter zu sagen außer dem Umstand, dass sie nach dem Angriff zerstört war.
Dann an einer Stelle bekommt man eine Ahnung davon, dass es so etwas wie einen politischen Konflikt in Kassel gegeben haben muss. Es wird Reinhard Henschel, Sprössling der Industriellenfamilie Henschel, zitiert, der in Ankara als Diplomat an der deutschen Botschaft tätig war. Seine Ausführungen über den Generaldirektor der Firma, der mit „Braunhemden“ in Konflikt gerät, werden zitiert. Man erfährt jedoch nichts über den Konflikt im Henschelwerk, weder ob es ihn gegeben hat noch über die Geschichte des Werkes während des Nationalsozialismus. Seidenfaden und Soremski werfen dem ratlosen Leser ein paar Brocken nebulöser Gedanken Henschels hin: „Da kann man lange philosophisch über Gesetz und Recht meditieren, Entscheidung schafft doch letztendlich nur die innere Betroffenheit. […] es war richtig gewesen, den Brief an Churchill zu schreiben.“ Dass Henschel zum erweiterten Umfeld des Widerstandes des 20. Juli gehörte, wird nicht erwähnt. Die sich daraus ergebenden Fragen, „Was für eine Entscheidung?“, „Warum ein Brief an Churchill?“, „Was versteht Henschel unter Recht und Gesetz und in welchem Zusammenhang sinniert er über diese Frage?“ werden nicht aufgegriffen. Der Leser wird ratlos zurückgelassen. Es wird nichts dazu ausgeführt. Wichtig ist den beiden Chronisten nur, dass Henschel in seinem Erinnerungsbuch über Kassel ein paar Seiten geschrieben hat und über die toten Arbeiter, die zerstörten Fabrikgebäude und die darniederliegende Produktion sinniert.

Das Schützengrabenerlebnis als authentisches Dokument der „Opfer“ präsentiert. Wer genau hinschaut erkennt ein „HJ“.
Nazis, politische Verfolgung, Bücherverbrennung, Reichspogromnacht, Deportation der jüdischen Bürger Kassels, Judenmord, Raub- und Vernichtungskrieg, alles das scheint es in Kassel nicht gegeben zu haben oder ohne die Kasseler bewerkstelligt worden zu sein. Einen Nazi erwähnen Seidenfaden und Soremski dann aber doch. Sie erwähnen, dass Gauleiter Karl Weinrich die Volksgenossen in der „Todesstunde“ ihrer Stadt im Stich gelassen hätte und angesichts der britischen Bomber das Weite im sicheren Bad Hersfeld suchte. Darüber sind Seidenfaden und Soremski sichtlich empört und fahren schweres Geschütz auf. Kein geringerer als Goebbels selbst wird herangezogen, um Weinrich eine „traurige Rolle“ zuzuschreiben und ihn als „jammervollen“ und „feigen Deutschen“, der „keine Leuchte“ gewesen sei, zu überführen. Goebbels dagegen, so wissen Seidenfaden und Soremski zu berichten, sei im offenen Wagen durch die Stadt gefahren, um sich davon zu überzeugen, dass die den „vom Luftterror betroffenen Städte und Regionen“ geltenden Hilfs- und Fürsorgemaßnahmen angelaufen sind.
Andere zeigten mehr Mut als Kassels einziger Nazi und kämpften tapfer gegen die von „Bomber Harris“ geschickten Flieger und die Flammen. Auch für einen Flakschützen war der 22. Oktober ein „völlig normaler Tag“. Als aber dann gemeldet wurde, dass die britischen Bomber Kassel ansteuern, da wusste er, „jetzt wird es ernst […] und dass es um die ganze Stadt geht.“ Er und seine Kameraden haben „geschossen was die Rohre hergaben.“ Ein selbstgemaltes Bild des Kanoniers darf nicht fehlen, um den Lesern das Schützengrabenerlebnis der Flakgeneration zu vermitteln. Auch dem schon erwähnten deutschen Jagdflieger wird sich gewidmet. Am „Himmel über Kassel schoss Radusch […] drei britische Bomber ab“ schildern Seidenfaden und Soremski dessen „Heldentaten“. In jedem dieser Flieger saßen bis zu sieben Mann, die gegen Nazideutschland zu Felde ziehen mussten, weil die deutsche Volksgemeinschaft sich hinter den Führer scharte. Es handelte sich um bestätigte Abschüsse, wer in diesen Bombern saß und zu Opfern des Nazifliegers wurden, erfährt der Leser nicht.
Mit diesem mehr als dürftigen Bezug zum Nationalsozialismus fallen die Chronisten der Bombennacht selbst weit hinter die den historischen Gegenstand notorisch trivialisierenden Fernsehsendungen des Geschichtsonkels Guido Knopp zurück. Knopp widmete sich allen möglichen „Helfern Hitlers“ und vor allem sein Nachfolger Sönke Neitzel erwähnt, dass die deutsche Wehrmacht und die ihnen unterstellten Verbände völkermordend durch Europa zogen. Beide stellen Nationalsozialismus und Krieg in einen, wenn auch unzureichend analysierten, Zusammenhang. Sie stehen für das, was als state of the art in Sachen popularisierter Aufarbeitung deutscher Geschichte gelten kann: Wenn man von Opfern unter den Deutschen spricht, soll man auch von den Opfern der deutschen Täter nicht schweigen.

Die wichtige Frage des HNA-Journalisten Siemon: „Kann es zur Bombennacht […] eine Liebesgeschichte geben?“. Ein „Opfer“ mit Wehrpass und Erinnerung …
VII. Volkssturmprosa und „Lehren“ aus der Geschichte
Den Zusammenhang von schlechtem Geschmack und Unvermögen zur kritischen Reflektion beweisen Seidenfaden und Soremski, indem sie die pennälerhaften Strophen eines dichtenden Feuerwehrhelden nicht etwa in Ausschnitten und beispielhaft kritisch analysieren, sondern dessen Zeilen vollumfänglich auf den mit Brandspuren, Schmutz- und Stockflecken eingefärbten Hochglanzseiten ihres Bandes präsentieren. Dieser Look soll wohl Authentizität suggerieren. Ein Gedicht oder ein Poem, dem mit graphischen Effekten förmlich Authentizität angeheftet werden soll und das nicht durch sich selbst spricht, ist billiges Kunsthandwerk. Doch nicht nur das, aus dem über mehrere Seiten abgedruckten „Gedicht“ spricht aus jeder Strophe der Jargon der Volksgemeinschaft.
„Die Sirenen heulten, es war der 16. Fliegeralarm // nehme mein Kind noch schnell auf den Arm.“ […] „In die Kohlenstraße bog ich ein, // das Jaulen der Stabbrandbomben ging mir durch Mark und Bein. // Ein Splittern, Krachen und Knallen // die ersten Stabbrandbomben waren gefallen.“ […]„Entwarnung war gegeben. // In die Straßen und Gassen kam Leben // Es war förmlich zu spüren, // jeder der konnte, wollte sich rühren. // Schüler, Jugendliche, Frauen und Greise // jeder halt auf seine Weise. //“ „Aus zahlreichen Stahlrohren, Wasserkanonen und Feuerlöschturm // bekämpften die Menschen den Feuersturm.“ […] „Was gab’s da noch zu hoffen, die Stadt war nach oben vollkommen offen. // Durch eine menschliche Schweinerei, wurden gewaltige Energien frei.“ […] „In ein und ein halber Stunde wurden in dieser Nacht, // dreizehntausend Menschen umgebracht.“

Volkssturmprosa auf sechs Seiten. Das Papier mit Stockflecken ist Design.
Das ist Volkssturmprosa. Die Volksgemeinschaft, bewaffnet mit Rohren und Kanonen, erhebt sich im Feuersturm und scheitert an den „gewaltigen Energien“, die, so raunt der Verseschmied, von „menschlichen Schweinereien“ freigesetzt wurden und eine „offene Stadt“ trafen. Ob der Nationalsozialismus mit „menschliche Schweinerei“ gemeint ist, der „gewaltige Energien“ freigesetzt hat, oder die auch Destruktionskräfte freisetzende Erfindungsgabe der Menschen ganz allgemein, oder ob gar die Royal Air-Force gemeint ist, das bleibt unklar. 13.000 Menschen wurden von gewaltigen Energien „umgebracht“, sprich ermordet. 13.000 Kasseler, die bei dem Angriff ums Leben kamen, werden so zu wehr- und arglosen Menschen, zu Opfern einer vorsätzlichen Tat. Insbesondere der Terminus „offene Stadt“ verdreht die Betroffenheitsprosa zur offenen Lüge. Auch wenn unter den Opfern des Bombardements Kinder, Zwangsarbeiter und sicher auch einige Gegner des Regimes waren, Goebbels hätte es nicht besser hinbekommen. Der unkommentierte Abdruck dieses „Gedichts“, oder dieses als authentisches Zeugnis eines „schrecklichen Krieges“ (Knopp) zu präsentieren, bezeugt, dass weder Seidenfaden noch Soremski wissen was sie tun, wenn sie unbefangen „Zeitzeugen“ aus der Volksgemeinschaft präsentieren. Das Pendant auf anderer Ebene dazu bietet Siemon, der einen Herrn aufbietet, der davon zu erzählen weiß, dass es auch die Zeit für Liebesgeschichten unter den Volksgenossen gab. Dummdreist hält der heute alte Mann seinen Wehrpass ins Bild. Drückeberger? Nein, das war auch er nicht!
Die Stumpfheit einerseits und die Unfähigkeit der Volksgenossen andererseits, wenigstens Scham wenn schon nicht Empathie den unzähligen Opfern des deutschen Vernichtungskrieges gegenüber zu empfinden, wird deutlich, wenn z.B. eine Kasselerin räsoniert, dass sie „in der Bombennacht […] ihren Glauben an einen gütigen und gerechten Gott“ verloren hat. Sie verliert nicht etwa darüber ihren Glauben, dass der Vater als Schichtführer „kriegswichtige Aufgaben“ in der Spinnfaser AG erfüllte, also Anteil daran hatte, was deutsche Soldaten in Europa vorsätzlich anrichteten und für das kein gütiger oder gerechter Gott sich eine angemessene Strafe hätte je ausdenken können. Wenn ein anderer feststellt, dass an „diesem Tag […] die Normalität meines Lebens beseitigt“ war sollte doch die Frage nahe liegen, was denn als Normalität alles gelten konnte, wenn deutsche Einsatzkräfte zur gleichen Zeit Millionen Menschen ermordeten. Die „Zeitzeugin“, die resümiert, dass der 22. Oktober das Ende ihrer Kindheit bedeutete und dann ausführte, dass es nun „mit Kriegseinsätzen“ weiterging, die ihre „Lehr- und Wanderjahre“ waren und dann sogar feststellt, dass diese Jahre „wichtige Jahre“ waren, denn sie führten zu „Menschenkenntnis [und] Berufserfahrung“, verblüfft angesichts ihrer Empathielosigkeit (selbst angesichts der zu Tode gekommenen Kasseler).
Es finden sich schließlich noch einige „Zeitzeugen“, die Lehren aus dem Ganzen ziehen. „Der Krieg sei ein scheußliches Kapitel in ihrem langen Leben gewesen,“ meint die eine und dem anderen fällt Europa ein, wenn er an den Krieg zurückdenkt. „Wenn ich an den Krieg zurückdenke, werden die Streitereien der letzten Jahre um Europa […] zu Kleinigkeiten.“ Wenn der Volksgenosse schon nicht gelernt hat, dass er einer der Millionen Co-Autoren scheußlicher Kapitel für Zigmillionen Europäer war, so weiß er wenigstens, dass die geläuterten Deutschen den Europäern heute erzählen müssen, was Kleinigkeiten sind und was nicht.
Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass es kein zu bedauerndes individuelles Leid auch unter den Individuen der Volksgemeinschaft gab und gibt, auch nicht, dass den Angehörigen der vielen Toten und Überlebenden die individuelle Trauer verwehrt werden soll. In Sachen Nationalsozialismus sollte aber klar sein, dass jede öffentliche Zurschaustellung individuellen Leids der Angehörigen der Täternation zwangsläufig zur grundsätzlich verkehrten Darstellung der Rolle der Volksgemeinschaft als Opfer eines „schrecklichen Krieges“ führt. Das wird grundsätzlich auch nicht besser, wenn erwähnt würde, dass es den Nationalsozialismus als historische Rahmenbedingung gab, dass Kassel Rüstungsstandort war und dass die Verfolgten und die gefallenen und verletzten Alliierten auch Opfer des Krieges waren. Bedingt durch die gesellschaftliche und politische Verfasstheit des Nationalsozialismus führt der Terminus „Opfer des Krieges“ und ein, den Deutschen zugedachter Opferstatus, immer zur Täter-Opfer-Umkehr.
Die vielen Artikel der HNA zum Thema und die beiden Bände zur „Bombennacht“ führen diese Verkehrung exemplarisch vor. Und wenn man dann auch noch sein Buch theatralisch „Diese Tränen trocknen nie …“ nennt, lässt sich sogar Vorsatz unterstellen. Bei „Trümmer, Tod und Tränen“ ist dies auch nicht besser. Und wie zum Beweis führt ein anderer Journalist der HNA vor, wie der Zusammenhang sich herstellt. Wolfgang Blieffert zitierte am 14.02.2018 in der HNA den in Sachen Nationalsozialismus notorischen Gerhard Hauptmann wie folgt: „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens“ und beansprucht dann aber „vorurteilsfrei und sachlich über den Krieg“ zu diskutieren. Aber er plaudert aus, was neben der unübersehbaren Emotionalisierung das Ziel der Kampagne ist: Es ginge um den überfälligen „Prozess der deutschen Selbstversöhnung“. Auf dem Klappentext des Bandes von Seidenfaden und Soremski heißt es, er soll als „Mahnmal für Frieden, Verständigung und Versöhnung“ stehen. Versöhnung angesichts Auschwitz kann jedoch nur obszön sein, Selbstversöhnung auch.
VIII. Resumee
Der Klappentext Siemons Bändchens führt aus, er sei ein „Buch von Zeitzeugen für Zeitzeugen und gegen das Vergessen.“ Die „Zeitzeugen“ fungieren hier als der Sprecher der Unwahrheit über den Nationalsozialismus. Sie reden von Normalität, wenn es darum gehen sollte, vom Grauen zu zeugen, an dem sie direkt oder indirekt beteiligt waren und sie reden über das Grauen, als es darum ging, mit notwendiger Gewalt das Grauen zu überwinden. Sie verschweigen also durchweg die Wahrheit des Nationalsozialismus und werden zu Zeugen der Unwahrheit. Es ist nicht so, dass nicht auch ein vom Bombardement Betroffener als Zeuge historischer Wahrheit dienen könnte. Es wird nur kein einziger von den Chronisten präsentiert. Dass diesen beiden Bänden trotzdem so viel Aufmerksamkeit gezollt wird, im Buchhandel sogar die Rede davon ist, es würden Analysen präsentiert, ist so bestürzend wie aussagekräftig.
Die politische Schlussfolgerung, die aus der sogenannten Bombennacht, bzw. aus dem Bombenkrieg gegen Deutschland zu ziehen ist, ist nicht etwa „Bomber Harris do it again“. Diese Parole hatte als politische Provokation in Zeiten allgemeiner nationaler Besoffenheit im Zuge der deutschen Wiedervereinigung ihre Berechtigung. Sie ist heute, gegen Sachsen gerichtet, angesichts vor allem (aber nicht nur) dort auftretender Nazi-Gruppen, die auf einhellige Ablehnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft stoßen, aber nur noch abgeschmackt. Die Schlussfolgerung aus dem Krieg gegen NS-Deutschland, den die Alliierten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln vortrugen, ist, dass Ideologien und Herrschaftsverhältnissen, wie dem Nationalsozialismus und den Versuchen, seine ihm wesentlichen Ziele zu verfolgen, kompromisslos entgegen getreten werden muss. In der Bundesrepublik tut das mal mehr mal weniger ausreichend die Polizei. Auf internationaler Ebene gegen Regime vorzugehen, die danach trachten, in die Fußstapfen Nazideutschlands zu treten, tut sich allein die Regierung der Vereinigten Staaten hervor. Deutschland dagegen spielt in diesem Zusammenhang oft eine undurchsichtige Rolle.
Tätern, Politikern und Staatsführern dieser Kategorie kann nur unverblümt beigebracht werden, dass der Preis ihrer Untaten so hoch ist oder sein wird, dass sie von ihren Vernichtungsvorsätzen und Taten ablassen. Dazu fehlten den Alliierten bis zum Mai 1945 jedoch die Mittel. Die Bombardierungen waren wie schon erwähnt auch ein Versuch der Abschreckung. Dass die Annahme, die Moral der Volksgenossen mittels einer verschärften Bombenkampagne brechen zu können eine Fehlannahme war, oder dass Deutschland nicht heftig genug bombardiert wurde, ist den Verantwortlichen in den Stäben der Alliierten von damals aber nicht anzulasten.
„So etwas darf sich nie wiederholen“ stellt der Chronist Siemon im Interview seiner Zeitung fest. (HNA, 05.09.2018) Damit treffen sich die Chronisten und „Zeitzeugen“ mit jenen, die zwar auch die Nase über diese beiden Bände und die HNA rümpfen, die aber der Auffassung sind, der Welt den Frieden erklären zu müssen und die, wenn sie über den Nationalsozialismus reden, das Wort Faschismus in den Mund nehmen. Sie stehen sich näher als sie sich darüber bewusst sind und betreiben das gleiche Geschäft. Sie meinen mit „Nie wieder“ nicht das Fehlen, einer zur schnelleren Niederwerfung Nazideutschlands anwendbaren effektiveren Waffentechnologie, oder das Ende der dreißiger Jahre zulange zögerliche Handeln der Alliierten, Nazideutschland entgegen zu treten. Nein, diese Floskel drückt den klammheimlichen Wunsch nach „Nie wieder Krieg gegen Faschismus“ aus.
Leitfaden für Britische Soldaten in Deutschland 1944: Alles in allem ist der Deutsche nämlich brutal, solange er siegreich bleibt, wird aber selbstmitleidig und bettelt um Mitleid, wenn er geschlagen ist.
Horst Seidenfaden, Harry Soremski, Diese Tränen trocknen nie … Die Kasseler Bombennacht vom 22. Oktober 1943, B & S Siebenhaar Verlag, Berlin Kassel 2018, 156 Seiten, 29,80 €
Thomas Siemon, Trümmer, Tod und Tränen. Überlebensberichte aus der Kasseler Bombennacht 1943, Wartberg Verlag, Gudensberg 2018, 63 Seiten, 12,90 €
IX. Literatur
Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Bonn 2005
Götz Aly und Karl-Heinz Reuband, Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2006
Autor_Innenkollektiv „Dissonanz“ (Hg.), Gedenken Abschaffen. Kritik am Diskurs zur Bombardierung Dresdens 1945, Berlin 2013
Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007
Beutelsbacher Konsens, Bundeszentrale für Politische Bildung 2011
Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupation des deutschen Faschismus, 1938 – 1945, 8 Bde., Hg. Bundesarchiv und einem Kollegium unter Leitung von Wolfgang Schumann und Ludwig Nestler, Köln, Berlin, Heidelberg 1988 ff
Tilman Krause, Für Gerhart Hauptmann hatte sich Hitler „bewährt“, 2009, in: Welt
Leitfaden für Britische Soldaten in Deutschland 1944, Köln 2014
Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Hamburg 2002
Richard Overy, Der Bombenkrieg. Europa 1939 – 1945, Berlin 2014
Cord Pagenstecher, Oral History als Methode, Bundeszentrale für Politische Bildung, 2016
Volksgemeinschaft Volksfeinde, Kassel 1933 – 1945, 2 Bde, Hg., W. Frenz, J. Kammler, D. Krause-Vilmar, Fuldabrück 1987
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