Vor 80 Jahren – Operation Züchtigung

In der Nacht zum 17. Mai 1943 griff ein Spezialkommando der Royal Air Force die Edertalsperre erfolgreich an. Mit einer der neu entwickelten Rollbomben gelang es der Besatzung eines der beteiligten Lancaster-Bomber, die Dammkrone der Edertalsperre zu treffen. Die Bombe riss ein großes Loch in die Talsperre. Über den stark beschädigten Damm ergossen sich enorme Wassermassen in das Edertal. In den unterhalb der Sperrmauer gelegenen Dörfern kommen zwischen 50 und 80 Menschen in den Fluten um, viele Häuser wurden zerstört und auch in Kassel kam es noch zu Überflutungen.

All jene Opfer

Die FAZ nimmt dieses Ereignis zum Anlass einen Artikel zu veröffentlichen in dem auf die geplante Gedenkveranstaltung anlässlich des 80igsten Jahrestages hingewiesen wird. Das Plakat zur Ankündigung der „3. Internationalen Gedenkveranstaltung 80. Jahrestag der Zerstörung der Talsperren“ führt im Untertitel die Zeilen „Erinnerung an die Opfer sowie alle Opfer des Weltkrieges 1939 – 1945 in Freundschaft und Versöhnung“. Zu sehen sind die Fahnen Deutschlands und Hessens, darunter die der Westalliierten. Die FAZ zitiert Oliver Köhler vom Verein Sperrmauer Museum wie folgt: „Gerade heute kann man das Gedenken an alle jene Opfer nicht deutlich genug betonen, weil es für uns eine ernste Mahnung ist, den Frieden zu bewahren“ und „der Ukraine-Krieg bestätigt uns darin, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist.“

Die Veranstalter sprechen von allen Opfern. Nicht nur Bewohner in den Dörfern kamen ums Leben sondern auch 50 Soldaten der Royal Air Force bezahlten die Einsätze gegen einige Talsperren in Deutschland mit ihrem Leben. Sie gehören, wie 79.000 ihrer Kameraden der Royal Air Force, zu denen, die von ihren Einsätzen gegen Nazideutschland nicht zurückkehrten. Sie stehen dafür, dass der Krieg gegen das verbrecherische Nazi-Regime einen hohen Preis hatte, insbesondere weil dieses sich bis 1945 auf eine große Zustimmung in der Bevölkerung stützen konnte und gegen dieses sich nur der Widerstand weniger, gesellschaftlich völlig isolierter, Individuen und klandestin operierender Gruppen richtete. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen ist es auch heute perfide, von den Opfern zu sprechen, auch dann, wenn heute die Vertreter der Regierungen der damaligen Alliierten auf den Gedenkveranstaltungen mit den Vertretern der Regierung der Täternation viel zu oft, gute Mine zum bösen Spiel machen.

Der Film THE DAM BUSTERS setzt den britischen Fliegern, die gegen Nazi-Deutschland flogen, ein Denkmal

Frieden bewahren

Lange, viel zu lange hegten die Alliierten die Illusion, den Frieden zu bewahren. Das war nach der Schlächterei im Ersten Weltkrieg eine verständliche aber wie es sich zeigte, eine völlig illusorische Hoffnung.

Den Frieden zu bewahren, indem man wie Frankreich und England Zugeständnisse an die Regierung Hitler machte und die einzige demokratische Nation östlich des Rheins, die Tschechoslowakei dem Nazireich zum Fraße vorwarf, oder indem man, wie die Sowjetunion unter Molotow und Stalin meinte, sich mit Deutschland einigen zu können, um gemeinsam die polnische Nation auszulöschen, bedeutete Nazideutschland den Weg zum Angriffs- und Vernichtungskrieg zu bahnen. Ohne Nazideutschland und Russland unter Putin auf eine Stufe zu stellen, es waren gerade jene Versuche der europäischen Staaten, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, mit dem sogenannten Normandie-Format und dem Minsker Abkommen den Frieden zu bewahren, die dem Putin-Regime den Weg zum Angriff auf die Ukraine bahnten. Der Bezug den Köhler zum Ukraine-Krieg zieht ist eine so falsche wie beliebte Schlussfolgerung unter jenen, die meinen, die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg hieße nicht etwa „Nie wieder Faschismus!“ sondern: „Nie wieder Krieg!“

1943, zur gleichen Zeit als britische Bomber über Deutschland versuchten, das Räderwerk der Vernichtungskrieger zu stören, zogen deutsche Sicherheitskräfte mordend und brennend durch Weißrussland und die Ukraine und löschten dort Dörfer tatsächlich aus. In tausenden Dörfern Weißrusslands und der Ukraine wurden die Bewohner in Kirchen und Scheunen getrieben um sie mit Handgranaten, Maschinengewehren und Flammenwerfern zu ermorden, die Dörfer wurden den Erdboden gleichgemacht. Es sollen 7.000 Dörfer gewesen sein. 1943, zur gleichen Zeit als die Wehrmacht versuchte, eine ganze Millionenstadt mit ihren Bewohnern tatsächlich zu vernichten. Die Bewohner Leningrads starben täglich zu Tausenden. 1943 waren die meisten der noch im deutschen Reich verbliebenen Juden – auch die Juden aus dem Edertal – in die Vernichtungslagern Auschwitz, Sobibor und Treblinka deportiert und dort oder in den Wäldern bei Riga bereits umgebracht.

Das schrecklichste und traurigste Kapitel

Edertals Bürgermeister Klaus Gier wird dann in der FAZ wie folgt zitiert: „Der 17. Mai markiert noch heute das schrecklichste und traurigste Kapitel in unserer Gemeinde“ und die FAZ schreibt, es seien Gedenkveranstaltungen in Affoldern, dem Ort „den die Flut fast auslöschte“, geplant. Der Ort wurde nicht fast ausgelöscht. Affoldern wurde stark zerstört, die meisten Einwohner überlebten jedoch die Flutwelle. Pläne sie umzusiedeln widersetzten sie sich. „Die Bevölkerung ging mit Elan an den Wiederaufbau heran“, hieß es 1968 in der HNA.

Das Gebiet Edertal gehörte während der Weimarer Republik zum „Freistaat Waldeck“, in dem die rechtsnationale und republikfeindliche DNVP und völkisch orientierte Bauernverbände schon Anfang der zwanziger Jahre die dominierenden Kräfte waren, an deren Stelle dann zu Beginn der Dreißiger Jahre die NSDAP trat. Aufbauend auf die in der Region tief verwurzelten antisemitischen Vorurteile und den Erfolgen der Antisemitenparteien im vorhergehenden Jahrhundert stießen die Nationalsozialisten in diesem Bezirk auf offene Ohren. Schon vor 1933 entwickelte sich die NSDAP im ehemaligen Freistaat Waldeck und auch im Kreis Eder zur dominierenden Kraft.

Alle sind Opfer, insbesondere die Toten der Täternation. Die derer man nicht denkt, sieht man nicht. Das Edertal ist „judenfrei“.

In einigen Dörfern des Kreis Eder, u.a. in Affoldern, lebten Juden, die häufig schon zu Beginn der NS-Herrschaft die Ortschaften verließen um zunächst in den umliegenden Städten Zuflucht zu finden oder um auszuwandern. Die meisten der über 50 Juden, die aus Affoldern kamen, wurden Opfer der Vernichtungsmaschinerie des NS-Staates.

Die Züchtigung durch die Royal Air Force traf nicht die Falschen. Die meisten der Bewohner überlebten die Angriffe der britischen Bomber, die meisten Juden die Verfolgung und Vernichtung durch die deutsche Volksgemeinschaft und NS-Staat nicht. 1968 hieß es in der HNA: „Wenn man heute durch das Edertal fährt, sieht man nichts mehr von der damaligen Katastrophe. Die Dörfer sind schöner geworden.“ Juden gibt es dort keine mehr.

Literatur und Links

Günter Steiner, Waldecks Weg ins Dritte Reich, Kassel 1990.

Lebensläufe Affoldener Juden.

Luftangriff auf die Edertalsperre 1943.

Ralf Blank, Die Nacht des 16. / 17. Mai 1943. Operation Züchtigung: Die Zerstörung der Möhne-Talsperre.

Angriff auf die Edertalsperre, FAZ, 15.05.2023.

Zwei staatlich geförderte Gastprofessoren und antisemitische Pamphlete

Ruangrupa und die antiisraelische Agitation

Mit Reza Afisina und Iswanto Hartono sind zwei Mitglieder der Ruangrupa als DAAD-Gastprofessoren an der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HfbK) berufen worden.1 Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) ist eine Förderorganisation für den Austausch von Studenten und Wissenschaftlern, die überwiegend öffentlich finanziert ist. Über die Hälfte des Gesamthaushaltes werden vom Auswärtigen Amt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung aufgebracht. Die beiden staatlich geförderten Gastprofessoren gehören zu denen aus der Ruangrupa, die sich als Antizionisten geoutet haben.

Die Ruangrupa besteht aus 10 oder elf Personen. Auch wenn die Gruppe sich gerne als die Unschuld vom Lande präsentiert, deren Mitglieder kein Wässerchen trüben können und nach Ansicht vieler Apologeten Fröhlichkeit verbreiteten, fünf ihrer Aktivisten haben den „A Letter against Apartheid“ unterzeichnet. Zwei der Unterzeichner, Ade Darmawan und Farid Rakun wurden im Zusammenhang der documenta 15 immer wieder als die beiden führenden Köpfe der Ruangrupa präsentiert. Farid Rakun hat darüber hinaus den „Open letter to the Fundacao Bienal Sao Paulo“ unterzeichnet, der sich im Jahr 2014 gegen die finanzielle Unterstützung der Bienale in Sao Paulo durch die israelische Botschaft wandte. Neben Mirwan Andan als fünften im Bunde, sind mit Iwanto Hartono und Reza Afisina zwei der weiteren Unterzeichner als Gastprofessoren an die HfbK berufen worden. Traditionsgemäß haben sie beide seit dem Sommersemester 2022 auch eine Gastprofessur an der Kasseler Hochschule erhalten.2

Die Ruangrupa war diejenige Gruppe, die auf der documenta 15 unmittelbar dafür verantwortlich war, dass antizionistisch ausgerichteten Agit-Prop-Gruppen wie Taring Padi, The Question of Funding, Subversive Film u.a., Antizionisten wie Hamjah Ahsan, Jumana Emil Abboud, Emily Dische-Becker, Lara Khaldi u.a. eine weltweit beachtete Bühne geboten wurde, auf der z.T. antisemitische Exponate präsentiert wurden.3

Der „A Letter against Apartheid“ wurde anlässlich der militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel im Frühjahr 2021 vor allem von palästinensischen Kulturschaffenden verfasst. Die israelische Armee hatte Raketenstellungen und Kommandocenter der Hamas angegriffen, nachdem diese im Ausmaß bisher beispiellos Israel völlig wahllos mit Raketen beschossen hatte. Die militärischen Aktionen der Israel Defence Forces (IDF) zum Schutz der israelischen Bevölkerung bezeichnet dieser Brief als ein weiteres Massaker (another masscre), als einen bewussten Akt (intentional pattern) Familien zu töten und unterstellte ihr den Zweck, die lokale Infrastruktur im Gaza zu zerstören. Der Gaza wird von den Unterzeichnern nicht als eine von der islam-faschistischen Hamas beherrschten Zone betrachtet, sondern als ein Ganzes, dem sich die Unterzeichner zugehörig fühlen (we are one people). Die Unterzeichner stellen sich somit an die Seite der Hamas. Die Trennung zu anderen Gebieten, also zur Westbank und den dort herrschenden Banden, sei der gewaltsamen Trennung durch den jüdischen Staat geschuldet.

Im Krieg der Hamas gegen Israel sehen die Unterzeichner keinen Kampf der Islamisten zur Vernichtung des jüdischen Staates und Vertreibung der Juden, auch keinen Kampf zweier Kriegsparteien, der Krieg sei vielmehr Ergebnis der israelischen Kolonial- und Apartheidspolitik. Diese habe dazu geführt, dass man sich als große Einheit der Palästinenser begreife, die überall in der Welt auf Unterstützung treffe. In dem Brief wird behauptet, in Städten flanierende Palästinenser würden von bewaffneten israelischen Soldaten und Zivilisten attackiert ermordet und gelyncht. Ein Konflikt, den der Brief herausstellt ist der juristisch ausgefochtenen Streit um die Eigentumsverhältnisse eines Hauses in einem Stadtviertel Jerusalems. In der Gerichtsentscheidung zugunsten der jüdischen Eigentümer sehen sie ethnischen Säuberungen (ethnic cleansing).4 Ferner wird in dem Brief beklagt, dass die palästinensische Gemeinschaft systematisch am Recht der Rückkehr gehindert, gewaltsam zerstreut und seit der „Nakba“ ausgelöscht (erased since An-Nakba) würde. Der Verteidigungskrieg der Israelis wird als Fortsetzung eines seit 1948 fortwährenden „Siedlerkolonialismus“5 betrachtet.

Der Brief fordert die Welt dazu auf, die Unterstützung Israels zu beenden und das „Apartheidsregime“ in Israel zu demontieren. Wegen seiner „Verbrechen gegen die Menschheit“ (crimes against humanity) sei der israelische Staat mit Sanktionen zu belegen, Handelsbeziehungen und kulturelle Kontakte zu Israel sollten beendet werden. Die Künstler und Aktivisten werden aufgefordert den Kampf der Palästinenser zu unterstützen. Zum Schluss wird betont, es sei zynisch „legitime Kritik“ am Staat Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen (conflating).

Der Brief beschreibt was er unter „legitime Kritik“ Israels versteht: Ein Staat, in dem Araber – trotz des seit 1948 andauernden Krieges gegen Israel – die gleichen Rechte haben wie die Juden, in dem sie im Parlament und den kommunalen Gebietskörperschaften vertreten sind, in dem sie in den Sicherheitskräften dienen und an dessen Universitäten arbeiten und studieren, wird als Apartheidsstaat bezeichnet. Die Verteidigung gegen terroristische Raketenangriffe wird als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet, ein Gerichtsurteil, dass die Eigentumsrechte an einem Haus in Jerusalem durchsetzt, als ethnische Säuberung. Und weil der jüdische Staat Israel als Apartheidsstaat bezeichnet wird und dessen Demontage gefordert wird, wird unter „legitimer Kritik“ Israels eben auch die Abschaffung des jüdischen Staates verstanden.

Den Juden und ihren Staat das Recht auf Selbstverteidigung und auf nationale Selbstbestimmung zu bestreiten ist eine Anmaßung, die man sich nur gegenüber Juden herausnimmt, es ist eine „Sonderbehandlung“, es ist Antisemitismus.

Rakun und Afinisa, die diesen Brief unterzeichet haben, haben der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben6, in dem Afinisa ausführt: „Es mag naiv oder ignorant erscheinen, aber ich musste erst googeln, was BDS ist. Ich wusste auch nicht, was antisemitisch in unserem Kontext bedeutet.“ Es ist unerheblich, ob Afinisa tatsächlich die BDS-Bewegung nicht kennt, er hat einen Brief unterzeichnet, der sich zwar in der politischen Wahrnehmung, nicht aber in Argumentation und Stoßrichtung von der BDS-Bewegung unterscheidet. Afinisa führte als Ausrede an: „Vielleicht war uns nicht bewusst genug, wie roh hier noch die Erinnerung an den Krieg, an den Holocaust ist.“

Aber was meint er mit „roh“? Ist seine Erinnerung „abgekocht“, also kaltschnäuzig, rücksichts- oder skrupellos? Bedauert er in seinem Statement, dass eine Gesellschaft sich, wie fadenscheinig auch immer, mit ihrer Vergangenheit und einem von ihr begangenen Verbrechen an den Juden befasst, ohne sie zu leugnen?

In dem Brief „We are angry, we are sad, we are tired, we are united: Letter from lumbung community„, den die Ruangrupa als Ganzes unterzeichnet hat, weisen sie die Kritik am Israelhass, der sogenannten Israelkritik, zurück. Sie fordern, den Kampf gegen Antisemitismus, dem Engagement gegen „Anti-Muslim, anti-Palestinian racism, anti-queer, transphobia, anti-Roma, abelism, casteism, anti-black, xenophobia and other forms of racisms“ unterzuordnen. Die Kritik die einen Zusammenhang von Antizionismus, Israelhass und Antisemitismus sieht, würde das notwendige Zusammenstehen der Aktivisten unterlaufen. Und so wie es der „A Letter Against Apartheid“ formuliert, findet man auch in diesem Brief die Feststellung: „The question is not the right of Israel to exist; the question is how it exists. Resistance to the State of
Israel is resistance to settler colonialism, which uses apartheid, ethnic cleansing, and occupation, as
forms of oppression.“ Gegen diese Form in der Israel existiert, sei dem Kampf der Palästinenser als „anti-colonial struggle“ Solidarität zu erweisen. Dieses Statement ist wie der „A Letter Against Apardheid“ eines gegen den jüdischen Staat, es ist ein Statement des Antisemitismus, unterzeichnet von den Aktivisten der Ruangrupa, deren Mitglieder jetzt mit staatlicher Förderung an zwei Hochschulen lehren dürfen.

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1 Ruangrupa-Mitglieder sollen an Hamburger Kunsthochschule lehren, Spiegel Online, 07.10.2022.

2 Reza Afisina und Iswanto Hartono, kunsthochschulekassel.de.

3 documenta 15: Werke, die die Existenz Israels in Frage stellen, Bündnis gegen Antisemitismus Kassel, 10.09.2022.

4 Sheikh Jarrah: Ein Immobilienstreit, der nicht nur um Immobilien geht, mena-watch, 12.09.2021.

5 Unter „Siedlerkolonialismus“ wird eine Form der Kolonial-Politik verstanden, deren Ziel es ist, durch die Auslöschung der Urbevölkerung Raum für ein zu okkupierendes und zu besiedelndes Territorium zu schaffen. Davon kann im Fall des Zionismus und der Politik Israels keine Rede sein.

6 „Natürlich ist es riskant uns zu engagieren“, SZ, 13./14./15.08.2022.

documenta 15 – Von der Umerziehung mit Mao und Wünschelrutengängerinnen gegen Israel

Anbei ein Ausschnitt aus dem Text: „Documenta 15. Wie Kassel vereint dem Einfluss der Juden die Stirn bot“ Der vollständige Text ist in Bahamas 90, 2022 erschienen.

Das Handbuch zur documenta begrüßt die Leser mit dem islamischen Gruß „Assalamualaikum“. Wer mit diesem Gruß anhebt, hat längst dafür Sorge getragen, dass jüdische Künstler aus Israel, die sich durch ein loyales Verhältnis zu ihrem Staat auszeichnen oder sich gar als Zionisten verstehen, auf der documenta 15 nicht zu finden sein werden. Die Gefahr, dass Israel oder eine seiner Institutionen diese Ausstellung unterstützte – und somit Anlass des Protestes der deutschen Kulturszene gewesen wäre -, bestand somit nicht. Man erfährt im Handbuch viel über das Weltbild der Personen rund um ruangrupa und den von dieser Gruppe berufenen Kollektiven, Aktivisten, Kulturschaffenden und Künstlern.

Seit ruangrupa in Kassel residiert, bezeichnen sie die Stadt und ihre sozialen Strukturen als „Ekosistem“.1 Ekosistem ist der bahasa-indonesische Begriff für Ökosystem sein und soll Verständnis für die gesellschaftliche Rolle von Kollektiven in der Gesellschaft schaffen, die jedenfalls nicht autonom sein können. Gesellschaft wird vielmehr als ein mit der Natur vergleichbares System verstanden, in der verschiedene Arten ihre spezifischen Funktionen und Rollen erfüllen, um ein Ökosystem im Gleichgewicht zu halten. (Handbuch, S. 12) Dieses Gleichgewicht, das die verschiedenen von der ruangrupa kuratierten Teilnehmer vor allem in dörflichen Strukturen noch zu finden glauben, wieder herzustellen ist das Programm dieser documenta.

Für das Programm stehen die verschiedensten lumbung member ein, darunter die Gruppe Cao Minghao & Chen Jianjun, die dazu beitragen will, dass Regionen weniger von importierten Industriegütern abhängig sind, weshalb sie für die Unterstützung der Subsistenzwirtschaft von Viehhaltern eintritt. (Handbuch, S. 80) Eine Gruppe mit dem Namen INLAND bewirbt den „cheese-coin“, worunter ein begrenzt zur Verfügung stehender Geldersatz gemeint ist, der durch Tauschnetzwerke unter lokalen Produzenten in Umlauf gebracht werden soll. Der cheese-coin mit metrischem Design soll der Wiederherstellung der Umwelt dienen und das langfristige Wohlergehen von Communities ermöglichen, sofern sie bäuerlicher Art sind und mit „Akkumulation und Produktivismus“ nichts zu tun haben. (Handbuch, S. 116) Ebenfalls ein lumbung member ist die Jatiwangi Art Factory, die ganz dem indonesischen Dorf verpflichtet ist, dem Würde und Widerstandskraft genommen worden sei. Der Bösewicht, der dies dem Dorf antat, war der indonesische Autokrat Haji Mohamed Suharto, der mit seinem „New-Order-Regime im späten 20. Jahrhundert ein [auf dem] Fortschrittsprinzip“ basierendes Wirtschaftssystem auch in den ländlichen Regionen etablieren wollte. „Viele Dorfbewohner*innen waren gezwungen, zum Arbeiten in die Städte zu gehen; sie träumten davon, moderne indonesische Bürger zu werden.“ (Handbuch, S. 124) Auch wenn jedem Schüler, der im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, der Satz „Stadtluft macht frei“ geläufig ist und auch wenn sich die Träume der meisten in die Städte abgewanderten Bauern nicht erfüllt haben dürften: in der Welt der Ekosisteme gilt Landflucht als Verrat an Volk, Brauchtum, Subsistenz und damit der Ökologie.

Für Eltern mit kleinen Kindern ist es eine Errungenschaft, wenn eine Ausstellung eine Kinderbetreuung organisiert, weil ihnen so ungestörter Kunstgenuss ermöglicht wird. Warum sollte es das nicht auch auf der documenta geben? Im zentral gelegenem Fridericianum trifft man auf ein Projekt von Graziela Kunsch, die „eine Krippe […] eingerichtet und damit einen Raum geschaffen (hat), in dem Eltern und Babys gemeinsam lernen können.“ Ein paar Sätze weiter wird deutlich, dass es gar nicht darum geht, Kinder zu betreuen, sondern darum, dass die Eltern ihre Babys in die Ess-, Schlaf- oder Wickelräume bringen um sich dort selbst um sie zu kümmern, und zwar so wie Graziela Kunsch es ihnen vorschreibt: „Ihre Eltern sind da, aber sie leiten das Spiel nicht an. […] Es ist ein Raum, wo wir Erwachsene vielleicht mehr von unseren Babys und untereinander lernen können, als wir den Babys beibringen.“ Und auch hier wird eine der zentralen Errungenschaften des Menschseins und Voraussetzung jeder Zivilisation, der aufrechte Gang und die Erziehung zur Mündigkeit zur Frage der Multiperspektivität erklärt. „Erwachsene neigen beispielsweise dazu, die motorische Positionen von Babys zu beeinflussen, indem sie den Baby dabei helfen, sich hinzusetzen, aufrecht stehen [Hervorhebung J.D.] zu bleiben oder zu laufen – in der Hoffnung, dass Babys so schnell wie möglich Teil der ‚Erwachsenenwelt‘ werden. Was aber, wenn wir diese Sichtweise umkehren, uns auf den Boden begeben […].“ (Handbuch, S. 107)

Für jene, die dem Herumkriechen, Niederknien und Bücken als Akte der Unterwerfung weniger abgewinnen können, präsentiert die Aktivistin Kiri Dalena in ihren Film „The Guerilla is a Poet“ Handfesteres. Darin feiert sie den philippinischen Kommunisten Jose Maria Sison, der mit seinen Spießgesellen in den Wäldern lebte und im „Einklang mit den maoistischen Lehren“ seiner Nation eine „Umerziehung durch das Eintauchen in das Landleben“ empfahl. (Handbuch, S. 137) Dieses den Philippinos angedrohte Waterboarding durch maoistische Wald-Guerillas entspricht dem Konzept der Roten Khmer in Kambodscha, die Menschen, die sie mit dem städtischen Leben, mit Intelligenz und mit Zivilisation identifizierten, zu Hunderttausenden ausrottete. Fast überflüssig zu erwähnen: Kiri Dalena ist nicht nur Anhängerin des maoistischen Umerziehung, sondern, wie andere lumbung member auch, eine des palästinensischen Volkstumskampfe

Das verbindet sie mit Yasmine Eid-Sabbagh, die schon auf der documenta 14 die Saga vom palästinensischen Flüchtling dem geneigten Publikum unterbreitet hatte und auf der aktuellen von Menschen berichtet, „die gezwungen wurden, das historische Palästina zu verlassen, genauer gesagt die Gebiete, die 1948 zum Staat Israel wurden.“ In einer vom Bund und der Stadt Kassel mitfinanzierten Kunstausstellung wärmt sie erneut die Mär von der UNO auf, die „ihnen [den Palästinensern] das Recht auf Rückkehr zuerkannt“ hätte3, an der sie nun schon in der vierten Generation gehindert würden. Eid-Sabaghs Arbeit sei eine „Abbildung des hartnäckigen Widerstands der Menschen gegen die Tilgung ihrer Geschichte durch Kolonialität.“ (Handbuch, S. 216) Und jeder weiß, dass es von der Tilgung der Geschichte eines Volkes zum Genozid bzw. zum Völkermord in der gängigen Begrifflichkeit nur ein kleiner Schritt ist.

Die um den ehemaligen Terroristen der Japanischen Roten Armee Masao Adachi und den beiden Aktivisten für die palästinensische Sache Reem Shilleh und Mohanad Yaqubi gebildeten Gruppe „Subversive-Film“ will die „blühende künstlerische Praxis palästinensischer revolutionärer Bestrebungen“ wiederbeleben, die von der israelischen Besatzung Beiruts im Jahr 1982 brüsk unterbrochen wurde. Die gelobten „revolutionären Bestrebungen“ von Praktikern der Kunst, waren nicht nur der Auftakt eines Jahre anhaltenden Bürgerkriegs, in dem der Libanon versank um schlussendlich der Hisbollah ausgeliefert zu werden. Aufs Konto solcher Bewegungen gingen zahllose terroristische Anschläge gegen die israelische Zivilbevölkerung aus, die Israel schließlich zwangen, im Libanon militärisch einzugreifen. Die revolutionären Genossen von der japanischen Roten Armee sekundierten ebenfalls praktisch ihren Beiruter Genossen: Sie waren maßgeblich am Anschlag in Lod beteiligt, dem 1972 26 Menschen zum Opfer fielen.4 Das auf der documenta präsentierte Film-Projekt spuckt nicht nur den Terror-Opfern posthum aufs Grab und ihren Hinterbliebenen ins Gesicht, sondern spricht mit der Forderung, dass die „transnationalen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Befreiungsbewegungen“ wieder aufzubauen seien, eine unverhohlene Drohung gegen Juden und Israel aus. (Handbuch, S. 190)

Oder nehmen wir Jumana Emil Abboud, die sich in ihrer Arbeit für die documenta 15 dem Thema Wasser widmete. Gemeint ist ein besonderes Wasser, das nämlich, das aus den Quellen an den Hängen des Abu al-Adham bei Ramallah sprudelt. Abboud möchte in ihrem Workshops für „Wünschelruten-gänger*innen […] den hier lebenden Menschen ihr Recht auf Wasser symbolisch zurückgeben“, das ihnen Siedlerkolonialisten verwehrten. „Der Verlust von Wasserrechten erscheint hier als Bestandteil der Siedlungspolitik des israelischen Staats: Wasser wird von Quellen in Palästina abgezapft und in nahe gelegene Neusiedlungen umgeleitet. […] Um ‚Rückgabe des Wassers‘ geht es sowohl in konkreter als auch kultureller Hinsicht.“ (Handbuch, S. 131) Die Botschaft im Klartext: Kein Wasser dem Juden in konkreter und kultureller Hinsicht, gefördert wird das durch Mittel der Stadt Kassel, des Landes Hessen und des Bundes.

Für alle, die im Lumbung ihr Unwesen trieben ist hier kein Platz. Es seien deshalb exemplarisch noch der Death-Metal-Musiker Safdar Ahmed genannt, der sich explizit als BDS-Unterstützer outet5, das lumbung-member „The Black Archives“, das in seinen sonst eher der schwarzen Sache verpflichteten Archiven eine Abteilung mit dem Namen „Free Palestine“ unterhält6 und der von der Gruppe „Trampoline House“ präsentierte Karikaturist Khalid Albaih, dessen blutgetränkten antiisraelischen Zeichnungen, die er regelmäßig auf seinem Instagram-Account postet, der Karikaturenausstellung in Teheran alle Ehre gemacht hätten.

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DOCUMENTA fifteen. Handbuch, ruangrupa und Künstlerisches Team, A.K.Kaiza, Alvin Li, Andrew Maerkle u.a., Kassel, 2022. Viele Angaben des Handbuches finden sich auch der Internetseite der documenta 15.

1 Im Handbuch und auf der Internetseite der documenta werden das „Kasseler ecosystem“ bestehend aus Kasseler Kollektiven und Initiativen vorgestellt, die mit der documenta 15 zusammenarbeiten. Nur wenige haben nach dem Bekanntwerden der antisemitischen Umtriebe die Zusammenarbeit mit der documenta fifteen gekündigt. Man findet darunter ein Kompost-Kollektiv, einen Verein „Essbare Stadt“, Fridays for Future Kassel, die Friedensbewegung Kassel, „kein Mensch ist illegal“, diverse Kirchengemeinden und wohl um den Müll später abzuräumen, auch die Stadtreiniger Kassel. (Handbuch, S. 291).

2 Kiri Dalena hat den Aufruf „Free Palestine / Strike MoMa: Call to Action“ unterzeichnet. Zum Aufruf, vgl.: Hundreds protest New York’s Museum of Modern Art board’s Israel ties, Times of Israel, 26.05.2021 (Hundreds protest New York’s Museum of Modern Art board’s Israel ties | The Times of Israel ).

3 Zum tatsächlichen Inhalt der diversen UN-Resolutionen und ihrer verrückten Rezeption vgl. Alex Feuerherdt / Florian Markl, Vereinte Nationen gegem Israel, Berlin 2018.

4 Näheres dazu: Thomas von der Osten-Sacken, Documenta ehrt Initiatoren eines Selbstmordattentats, Mena Watch, 24.06.2022. Documenta ehrt Initiatoren eines Selbstmordattentats (mena-watch.com) )

5 Documenta: Und noch ein BDS-Fan in der Reisscheune, Ruhrbarone, 30.07.2022. (Documenta: Und noch ein BDS-Fan in der Reisscheune | Ruhrbarone )

6 Es fiel sogar der HNA auf, dass dieses Thema „etwas aus dem Schema [der Archivinseln] fällt“. Siehe: Raum für Schwarze Geschichte, HNA,27.07.2022.

Wider den Antisemitismus im Lumbung

Mein Auftrag ist es Kassel niederzubrennen1 – Beiträge des alten Kommunisten im Judenmantel (Volksmund) gegen die documenta 15

Am 23.2.2019 vermeldete die Kasseler Lokalzeitung Hessische/Niedersächsische Allgemeine (1), dass die Mitglieder der Findungskommission anlässlich der Entscheidung, das Künstlerkollektiv ruangrupa aus Jakarta damit zu beauftragen, die kommende documenta zu leiten, „getanzt“ hätten. Wohl aus Freude, denn das Künstlerkollektiv verspricht nicht nur erbaulichen Aktivismus im Namen von Diversität und Vielfalt, sondern bekundet auch den Willen, die Stadt Kassel nicht zu kurz kommen zu lassen. […] Grund für die ausgelassene Stimmung war aber nicht nur das kulinarische Begleitprogramm, vielmehr verspricht man sich vom neuen documenta-Führungsteam ein als Kunst deklariertes politisches Mitmachspektakel, das so richtig unter die Haut gehen soll: „Wenn die documenta 1955 antrat, um Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht versuchen, mit der documenta 15 das Augenmerk auf heutige Verletzungen zu richten.“ Mehr dazu in: Bahamas 89 / 2022

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1 „Die einzige Forderung, die bisher noch fehlt: ‚Ganz Kassel niederbrennen, damit angemessen Buße getan ist.‘ Das schrieb treffsicher die Schriftstellerin Eva Menasse in ihrem Gastbeitrag für den Spiegel.“, aus: Ignoranz und Verschwörungswut hat die documenta nicht verdient, Hessenschau, 14.07.2022.

Über die Verdrängung besiegt und nicht befreit worden zu sein

„Man sah immer nur wenige Deutsche auf einmal, und die waren in ihrer Unterwürfigkeit, Scheinheiligkeit und Liebenswürdigkeit schlicht ekelerregend. […] Wie wollen sie sich von allem, was war, distanzieren? Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes.“ (Lee Miller 1945)

Im Unterschied zur Situation von vor 75 Jahren, sind es heute nicht mehr wenige auf einmal. Inzwischen wird der 8. Mai in Deutschland von einer zunehmenden Menge feierlich begangen. Mittlerweile gibt es sogar eine Initiative, den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zu einem Feiertag zu erklären. Der 8. Mai steht mittlerweile nicht mehr für eine schändliche Niederlage, als die die Kapitulation am 8. und 9. Mai bis in die achtziger Jahre herein von der Mehrheit der Deutschen wahrgenommen wurde, sondern das Datum gilt als positiver Bezugspunkt deutscher Identität. Die Rede von der Befreiung, die Deutschland von den Alliierten erfahren habe und die gefeiert werden soll, suggeriert, dass die Herrschaft des Nationalsozialismus gegen den Willen der Bevölkerung existiert habe, dass das deutsche Volk quasi das erste Opfer nationalsozialistischer Herrschaft war. Diese Interpretation ist eine besonders perfide Form des Geschichtsrevisionismus, der unterschlägt, dass dem Nationalsozialismus nicht nur in der Propaganda sondern tatsächlich die formierte Volksgemeinschaft zugrundelag, dass die Diktatur des Nationalsozialismus eine Konsensdiktatur war. Diese Lesart überhöht die gesellschaftliche Bedeutung des antifaschistischen Widerstandes, sie ist eine Fortsetzung der falschen Faschismusanalyse Georgi Dimitroffs und der Komintern, die davon ausgeht, dass die Nazidiktatur die Herrschaftsform der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals gewesen sei. Eine Herrschaft gegen ein unschuldiges Volk war.

Am 8. und 9. Mai 1945 kapitulierten die deutschen Truppen. Der deutsche Vernichtungskrieg war damit beendet. Die letzten Konzentrationslager konnten befreit werden, sofern sie nicht schon vorher, von den in Richtung Deutschland marschierenden Truppen der Alliierten, befreit wurden. Dank weitgehender Übereinstimmung von Führung und Volksgemeinschaft in Deutschland, konnten die Nazis ihr Vernichtungsprogramm reibungslos umsetzten und das europäische Judentum fast gänzlich vernichten.

6 Millionen Juden, Männer, Frauen, Kinder und Greise verloren ihr Leben in den Gaskammern oder vor Maschinengewehrkommandos, wurden in Scheunen und Kirchen verbrannt, auf offener Straße erschlagen oder man ließ sie in eigens errichteten Ghettos verhungern. Millionenfach verloren die Soldaten der Alliierten, millionenfach verloren vor allem in Osteuropa Zivilisten ihr Leben, ihre jugendliche Unbeschwertheit und ihre Gesundheit weil deutsche Soldaten den Wahn der deutschen Volksgemeinschaft dank deutscher Technik und deutschem militärischen Genie umsetzten konnten, weil man in Deutschland entschied, Menschen zu dezimieren oder auszurotten. Die wenigen Widerstandskämpfer in Deutschland, häufig von den Volksgenossen an die Gestapo verraten, geköpft, an Fleischerhaken aufgehängt oder zu Tode gefoltert, verloren ihr Leben für ihre naive Hoffnung auf ein besseres Deutschland. Andere waren rechtzeitig geflohen, nach Großbritannien, in die USA, nach Mexiko und in die Sowjetunion, sie verloren ihre Heimat. In der Sowjetunion verschwanden einige von ihnen, manche für immer, als Volksfeinde deklariert oder als vermeintlich faschistische Spione denunziert. Die Parole „Wer nicht feiert hat verloren“ ist perfide.

Reporter, Schriftsteller und Vernehmungsoffiziere, wie Saul K. Padover, Lee Miller, Martha Gellhorn und Ilja Ehrenburg stellten 1945 konsterniert fest, dass es in Deutschland offensichtlich keine Nazis gab. Ehrenburg erinnerte sich: „Dutzende Städte habe ich gesehen, mit Menschen verschiedenster Schichten gesprochen: mit Ärzten, Notaren und Lehrern, mit Bauern, Gastwirten und Schneidern, mit Krämern, Stahlschmelzern und Bierbrauern, mit Juwelieren, Agronomen und Pastoren, sogar mit Stammbaumspezialisten. Ich suchte Antwort bei einem katholischen Vikar, bei einem Professor der Marburger Universität, bei Greisen und Schülern – ich wollte wissen, wie sie zur Idee des ‚Herrenvolkes‘, zum Traum von der Eroberung Indiens, zu Hitler und den Öfen von Auschwitz standen. Überall hörte ich das gleiche: ‚Wir haben nichts damit zu tun …‘ […] Unter den Hunderten von Menschen, mit denen ich sprach, gab es natürlich auch welche, die aufrichtig waren, aber ich konnte sie nicht voneinander unterscheiden – sie redeten alle das gleiche.“

Wenn sie auf Deutsche trafen, so mussten sie sich anhören, dass diese sich als verkannte Widerstandskämpfer ansahen und wenn dies zu offensichtlich als Lüge erschien, dass sie für sich reklamierten, man habe sich in der inneren Emigration befunden, oder der Onkel sei Kommunist, der Nachbar Sozialdemokrat gewesen und man habe immer ein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt. Andere behaupteten, sie hätten einem Juden Unterschlupf gewährt, dort einem Zwangsarbeiter ein Brot zugesteckt, oder einem Verfolgten einen „Guten Tag“ gewünscht. „Ich habe einen Juden versteckt, er hat einen Juden versteckt, alle Kinder Gottes haben einen Juden versteckt. […] Man müsste es vertonen. Dann können die Deutschen einen Refrain singen“, schrieb die Reporterin Martha Gellhorn voller Sarkasmus im Jahre 1945. Angesichts der gebetsmühlenartig vorgetragenen Beteuerungen der besiegten Deutschen fragte sie sich: „[…] wie die verabscheute Nazi-Regierung, der niemand Gefolgschaft leistete, es fertigbrachte, diesen Krieg fünfeinhalb Jahre lang durchzuhalten.“

Aufgehalten hatte der Widerstand in Deutschland tatsächlich weder die Kriegsmaschinerie, noch die Judenvernichtung, noch konnte der Widerstand seine eigenen Leute auch nur annähernd vor der massenhaft getätigten Denunziation der Volksgemeinschaft schützen. Der antifaschistische Widerstand stand angesichts der formierten Volksgemeinschaft von Beginn an auf verlorenen Posten. Besonders Kommunisten schätzten die Situation 1933 völlig falsch ein. Sie vermuteten eine vorrevolutionäre Situation und dachten, die den Nazis folgenden Massen hätten sich nur in der Fahne geirrt und wollten sie daher auf den rechten Weg leiten. Ihre Widerstandsaktionen waren heroisch, aber verantwortungslose Himmelfahrtskommandos. Bis Mitte der dreißiger Jahre war der antifaschistische Widerstand in Deutschland gesellschaftlich völlig isoliert und von der Gestapo aufgerollt. Fast alle, die im Land blieben und versuchten Widerstand zu organisieren, fielen trotz aller Vorsicht der Denunziation oder den oft in ihren eigenen Reihen eingesetzten Spitzeln der Gestapo zum Opfer.

In den deutschen KZ saßen Mitte der dreißiger Jahre bis 1938 „nur“ einige Tausend Nazi-Gegner, auch diese Zahl sagt etwas über die gesellschaftliche Bedeutung des Widerstandes aus. Durch die in Folge des November-Pogroms vorgenommenen Verhaftungen von ca. 30.000 Juden schnellten die Zahlen der Insassen in den Konzentrationslagern in die Höhe und erst nach Kriegsbeginn füllten sich die deutschen Lager mit Millionen von Verschleppten aus allen Ländern Europas. Als in den letzten Kriegswochen diese Lager angesichts der herannahenden Befreier „evakuiert“ wurden, wurden deren Insassen auf die berüchtigten Todesmärsche mitten durch Deutschland geschickt, in Güterwaggons verfrachtet, deren Insassen, auf manchem Abstellgleis abgestellt, elendig starben. Deutsche Volkssturmeinheiten und versprengte Wehrmachtseinheiten kämpften gegen die vorrückenden Alliierten und sie verfolgten und jagten ausgebrochene und entflohene Häftlinge – sie richteten ihre Waffen nicht gegen die Bewacher der Todesmärsche, sie befreiten keine der in den Güterwaggons gepferchten Hungernden und Dürstenden und sie ließen es zu, dass in Bergen-Belsen inmitten blühender Landschaften, bewacht von einigen SS-Leuten, Zehntausende, kurz bevor die britische Armee anrückte, verreckten.

Eine Widerstandsbewegung gab es aber: Viele standen fast bis zum Ende aufrecht ihren Mann um den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten. Die deutschen Tugenden militärisches Genie, Kameradschaft, Militarismus, Gehorsam, die Liebe zum Tod usw. bedeuteten für die Armeen der Alliierten, insbesondere aber für die Rote Armee bis zu den letzten Tagen einen opferreichen Gang, um Europa vom Nationalsozialismus zu befreien. Jeder deutsche Landser mit dem Gewehr in der Hand, am Steuer seines Panzers oder Fliegers bedeutete bis zu seiner Ausschaltung: Widerstand gegen die Rettung der letzten Juden, Widerstand gegen die Befreiung der Verfolgten, Unterdrückten und millionenfach Verschleppten.

Am Stammtisch, wenn man unter sich war, galt man als wer, der Widerstand an der Ostfront gegen „den anstürmenden Russen“ leistete, irgendwo in der russischen Steppe „Deutschland verteidigte“, gegen „General Winter“, oder gegen den „General Schlamm“ tapfer aushielt, als Flaksoldat oder stolzer Jagdflieger gegen die alliierten „Luftkriegsterroristen“, oder gegen anrückende Panzer der Amis oder Russen zum Trutze der als wehr-, schuld- und ahnungslos hingestellten Volksgemeinschaft mutig und todesverachtend vorging. Man war stolz darauf (und ist es bisweilen bis heute), dass dank deutscher Ingenieurskunst, die deutschen Panzer und Flieger, denen der Alliierten angeblich überlegen waren, und dass nur die schiere Masse (von anstürmenden Russen oder in Form von unendlich zur Verfügung stehendem Material, des an sich feigen und unmilitärischen Ami) den tapferen deutschen Soldaten mitsamt seiner überlegenen Technik und seinem militärischen Genie besiegt habe.

Dass ihr „heroischer“ Widerstand, ihr Einstehen für das Vaterland, ihre kameradschaftliche Treue nicht mit Erfolg belohnt wurde, dafür machten dann viele, als es vorbei war, Hitler oder die Nazis verantwortlich. Genoss Hitler besonders Anfang der Vierziger einen großen Rückhalt in der deutschen Volksgemeinschaft, nahmen es ihm jetzt die Volksgenossen übel, dass er den Krieg vermasselt hatte. Der für die US-Army als Vernehmungsoffizier dienende Saul K. Padover schrieb: „Die meisten Deutschen gaben zu,  dass sie 1939 den Krieg widerstandslos akzeptiert und die Siege 1940 mit großer Begeisterung begrüßt hatten. Der Krieg brachte Wohlstand und Beute. […] Niemand kritisierte die Aggression als solche. Kritisiert wurde die gescheiterte Aggression. Hitler wurde vorgeworfen, den Krieg verloren […] zu haben.“ Angesichts zerstörter Städte, gefallener Soldaten und verlorener Heimat, angesichts des ausbleibenden Nachschubs an geplünderten Hab und Gut aus den eroberten und nun befreiten Gebieten floss man über vor Selbstmitleid. Padover kam zu dem Schluss, dass diese an den Tag gelegte „Larmoyanz eine mehr oder weniger unbewusste Methode zur Rechtfertigung des eigenen Mitläufertums [war] […] Dieses Selbstmitleid und dieser Egoismus ist eng verknüpft mit der Weigerung (oder der psychologischen Unfähigkeit), sich gegen das NS-Regime zu wenden.“

Viele meinten nun, den Siegern die Hand zur Versöhnung reichen zu können, man verzieh ihnen großzügig, dass sie gegen Deutschland zu Felde gezogen waren, man gab sich beflissen und servil und erwartete geschont zu werden. Ehrenburg hielt in seine Memoiren fest: „Ich bemerkte überall nur den Wunsch, das eigene Hab und Gut zu retten, sowie die Gewohnheit alle Befehle pünktlich auszuführen. Man grüßte ehrerbietig und zwang sich zu einem Lächeln.“ Diese Haltung, die Miller voller Verachtung als „schleimige Einladungen“, als „Dreistigkeit“ und „Idiotie“ begegnete, drückt sich heute in dem Bestreben aus, den Sieg der Alliierten feiern zu wollen oder einen Feiertag, eine „Tag der Befreiung“ zu etablieren. Sie schrieb: „Ein Gestapogefängnis wurde befreit, und gegen das gesamte deutsche Volk wird nun von den stummen Toten wie auch von den beredten Lebenden Anklage wegen krimineller Geisteskrankheit erhoben.“

Anstatt eines Feiertages sollte der Ertrag eines Tages der deutschen Volkswirtschaft (Löhne, Gewinne, Miet- und Pachteinnahmen, Lohnersatzleistungen usw.) zugunsten der bis heute nicht entschädigten Opfer des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges abgeschöpft werden. Eine Petition, die es nicht geben wird.

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  • Ilja Ehrenburg, Menschen. Jahre. Leben, Memoiren Fünftes Buch, Band III, Berlin 1982
  • Martha Gellhorn, Das deutsche Volk. April 1945, in: Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937 – 1987, München Hamburg 1989
  • Lee Miller, Deutschland. Der Krieg ist gewonnen, in: Lee Miller. Krieg. Reportagen und Fotos. Mit den Alliierten in Europa, Berlin 2013
  • Saul K. Padover, Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland, Frankfurt 1999

Warum das Bündnis mit Antisemiten möglich ist

Der Antisemit will den Tod des Juden, heißt es zutreffend bei Jean-Paul Sartre. Die Partei „Die Rechte“, die in Kassel am 20. Juli 2019 u.a. mit der Parole „Nationale GegenOfenSSive“ auftrat, brachte damit die antisemitische Ideologie und den Kern der Naziideologie unverblümt auf den Punkt. Der Bezug zu den Öfen von Auschwitz geht über den strafbewehrten Tatbestand der Holocaustleugnung hinaus und ist, der Strategie der Provokation und ideologischen Grundlage dieser Partei gemäß, die kaum verblümte Forderung nach Auschwitz und der SS.

Nazis tun in Kassel was Nazis tun müssen: Juden hassen.

Der Partei „Die Rechte“ trat ein breites Bündnis entgegen, dessen Parolen „Gegen Ausgrenzung, gegen Haß, gegen Gewalt“, „Gegen Rechts“, „Kein Platz für Rassismus“, „Offen für Vielfalt“, „Gegen Nationalismus“, „Für Toleranz“ usw. samt und sonders und ohne Ausnahme am Gegenstand vorbei gehen. Der bei vielen unbekannte und von anderen weitgehend unverstandene Moishe Postone führt folgendes aus: „Was ist die Besonderheit des Holocaust und des modernen Antisemitismus? Dies ist sicherlich keine Frage der Quantität, […] noch des Ausmaßes ihres Leidens. Es gibt zu viele historische Beispiele für Massenmord und Genozid. So sind zum Beispiel viel mehr Russen als Juden von Nazis getötet worden. Die Frage zielt vielmehr auf die qualitative Besonderheit. Bestimmte Aspekte der Vernichtung des europäischen Judentums bleiben so lange unerklärlich, wie Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteil, Fremdenhaß und Rassismus allgemein behandelt wird, als Beispiel für Sündenbockstrategien, deren Opfer auch sehr gut Mitglieder irgendeiner anderen Gruppe hätten gewesen sein können.“ (Moishe Postone , 177)

Die Parolen der verschiedenen Aufrufe und der vielen Transparente, die vor allem den Rassismus, Rechts allgemein, Intoleranz, Ausgrenzung usw. anklagten, zeigen also, dass der Antisemitismus nicht verstanden wird, auch von denen, die es besser wissen müssten und sich ebenfalls dem Marsch der Antifaschisten anschlossen ohne den Aufruf zu unterzeichnen. Aber auch dann, wenn unter den Parolen oder gar im Aufruf der Nazigegner neben anderen der Passus „Gegen (jeden) Antisemitismus!“ aufgetaucht wäre, was aber am 20. Juli in Kassel nicht der Fall war, wäre der zentralen Ideologie des Nationalsozialismus nicht überzeugend entgegengetreten worden.

Grabstätten der Opfer des Ma’alot-Massakers. 1974 ermordeten Terroristen der DFLP 31 Schüler und Lehrer einer Schule, die sie zuvor als Geiseln nahmen. Die DFLP wurde unter dem Tarnnamen „Internationalisitisches Bündnis“ an der Demo gegen die Nazipartei beteiligt.

„Ist die qualitative Besonderheit der Vernichtung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, daß Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben.“ (178) Diese Unkenntnis und das allgemeine durchaus gewollte Mißverständnis vom Antisemitismus als Spielart des Rassismus und der Subsumierung des Nationalsozialismus als „Rechte Ideologie“, als Herrschaft aggressiver Kapitalgruppen oder des Imperialismus usw. tragen dann auch dazu bei, dass Gruppen wie die Judenmörderbande DFLP, neben anderen Antizionisten, von der Partei „Die Linke“, über „Pax Christi“, bis hin zur MLPD immer wieder als Unterzeichner der Aufrufe der üblichen Bündnisse gegen Rechts einbezogen werden. Aber auch Gruppen, Parteien und Verbände wie Attac, Die Grünen, die SPD, die GEW bis hin zur VVN, die sich auf regionaler Ebene zum Thema Israel in der Regel zwar nicht äußern, aber offen für Toleranz gegenüber Antizionismus und „Israelkritik“, bzw. klammheimliche Sympathisanten dieser gesellschaftlich akzeptierten Form des Antisemitismus sind, sind Ausdruck der angeführten Problematik. Eine detaillierte Auflistung der Israelhasser und Antizionisten des Bündnisses gegen Rechts in Kassel ist beim Bündnis gegen Antisemitismus Kassel  zu finden. Es dürfte so gewesen sein, dass am 20. Juli in Kassel mehr Antisemiten auf der Seite der Nazi-Gegner zu zählen waren, als unter den Nazis (die allesamt welche sind, aber nur hundert Streiter mobilisieren konnten).

Warum der Tod des Juden die notwendige Konsequenz des Antisemitismus ist und dieser über eine „kapitalismuskritische“ Haltung Eingang in die Weltanschauung der gesellschaftlichen Linken und darüber hinaus bis hin zur AfD findet, begründet Postone wie folgt: „Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders gefährliche Form des Fetischs. Seine Macht und Gefahr liegen darin, daß er eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht. Er läßt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift. Ein so verstandener Antisemitismus ermöglicht es, ein wesentliches Moment des Nazismus als verkürzten Antikapitalismus zu verstehen. Für ihn ist der Haß auf das Abstrakte charakteristisch. Seine Hypostasierung des existierenden Konkreten mündet in einer einmütig, grausamen – aber nicht notwendig haßerfüllten Mission: der Erlösung der Welt von der Quelle allen Übels in Gestalt der Juden.“

Da der offene Antisemitismus, wie ihn die Partei „Die Rechte“ formuliert, in Deutschland nach 1945 gesellschaftlich diskreditiert ist und sofern er auftritt – obwohl oft nicht verstanden – einhellig verurteilt wird, drückt sich dieser insbesondere seit 1967 in der gesellschaftlich akzeptierten Form der Kritik an Israel und dem Antizionismus aus. Allgemeiner tritt er auch im Manichäismus und im Hass auf die Moderne zu Tage. Parolen und Bonmots wie „Die da oben“, eine „Geldkritik“, der Regionalismus, der Antiamerikanismus, die Verdächtigung „bestimmter Kräfte“, das „Wir“, die „99 %“ usw. usf., gehören allesamt zur Weltanschauung und zum Repertoire vieler sozialer Bewegungen und sind der Ausdruck dieser von Postone „verkürzte Kapitalismuskritik“ genannten Ideologie, die die Grundlage der Bündnisfähigkeit dieser Bewegungen mit den Gruppen bildet, die sich alleine über den Antizionismus und den Hass auf Israel definieren. Diese Haltung reicht bis in das Handeln der Regierenden, die sich in der für Israel gefährlichen Appeasementpolitik gegenüber dem Iran ausdrückt, in der Nachsichtigkeit gegenüber dem Antisemitismus palästinensischer Behörden, Institutionen und Verbände sowie in der Dialogbereitschaft mit Verbänden, die mit den antisemitischen Muslim-Brüdern verbandelt, oder dem türkischen Religionsministerium der islamistischen AKP-Regierung in der Türkei unterstellt sind.

Der Iran ist, sofern ihm die Herstellung der Atombombe gelingt, aktuell die einzige Kraft, die das Umsetzen kann, was die Partei „Die Rechte“ fordert. Würde zum Protest gegen die Politik des Irans und zur Unterstützung der Politik der USA gegen den Iran aufgerufen werden, wäre in Kassel mit einer Kundgebung mit ein paar Dutzend Teilnehmern zu rechnen.

Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: ders., „Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg 2005

… und die Faschisten brüllten schon: Gefallen ist die Stadt Kassel!

„No pasaran!“ hieß der Schlachtruf der Republikaner, als Francos Faschisten vor Madrid standen, ausgestattet mit deutschen Waffen, unterstützt von italienischen Truppen, marokkanischen Söldnern und deutschen Fliegern um der demokratischen Republik ein Ende zu bereiten. Mit Hilfe der Internationalen Brigaden, sowjetischer Panzer und Flieger mit ihren sowjetischen Besatzungen und sowjetischer Offiziere konnten die Faschisten abgewehrt werden. Letztendlich war dies vergeblich, zweieinhalb Jahre später fiel Madrid, auch deswegen, weil es den Faschisten gelang, eine nicht unbeträchtliche Zustimmung in der Bevölkerung zu erlangen und weil die spanische Republik von den Demokratien im Westen im Stich gelassen wurde.

Finde den Fehler!

„No pasaran!“ heißt es jetzt auch in Kassel in einem Aufruf des Kasseler Bündnisses gegen Rechts. Steht’s in Kassel um unsere Sache schlecht? Geht’s Schritt um Schritt zurück? Stehen faschistische Divisionen, bewaffnet und personell unterstützt von ausländischen Mächten vor Kassels Toren und schicken Kugeln hageldicht? Konnten unter der nordhessischen Bevölkerung tausende von Kämpfern rekrutiert werden?Haben wir es mit einer Bewegung zu tun, die die Unterstützung der Kasseler Elite genießt? Und wer sind die vier noblen Generale, die uns verraten haben? Manfred Nielson, Markus Kneip, Eberhard Zorn, Erhard Bühler etwa, sind das die Anführer der faschistischen Divisionen, die vor Kassel stehen?

Nein, es gibt natürlich keine faschistischen Divisionen und, trotz einiger Rechtsextremer in der Bundeswehr und in der Polizei, auch keine ebensolche Generale mit zu heißem Blut. Die Partei „Die Rechte“ hat eine Kundgebung in Kassel angemeldet. Sie ist eine rechtsextreme und neonazistische Kleinstpartei, die laut Verfassungsschutz Aktivitäten von Neonazi-Kameradschaften fortführt, sich offen zum Nationalsozialismus bekennt und die die in Haft sitzende Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck als Spitzenkandidatin zur Europawahl 2019 aufstellte. Im Europawahlkampf fiel sie u.a. mit der offen und aggressiven antisemitischen Propagandaformel „Israel ist unser Unglück“ auf.

Die Partei hat bundesweit ca. 500 Mitglieder, bei der Europawahl erhielt sie 0,1% der Stimmen. Eine große Zustimmung oder eine Massenbewegung sehen anders aus. Die gesellschaftlichen Eliten sehen sich in der Partei „Die Grünen“ repräsentiert und auch wenn die Partei „Die Rechte“ mit ihrer antiisraelischen Propagandaformel, wenn sie diese denn anders formuliert hätte, sicher einen Nerv der deutschen Bevölkerung getroffen hätte, denn diese mag zwar Israel genauso wenig wie selbstbewusst auftretende Juden, ist seit 1945 offener Antisemitismus in Deutschland tabu. Nicht anders ist das mit Nazis, wenn diese nicht gerade im Gaza oder im Libanon für die palästinensische Sache agieren, oder sich mit drei Halbmonden in oder vor den Kasseler Moscheen drapieren und den Wolfsgruß präsentieren, sondern aus Deutschland kommen und sich ganz old-scool-like offen als solche für Jedermann zu erkennen geben. Die Old-Scool-Nazis mag keiner, der Protest gegen sie ist gesellschaftlicher Konsens. Es steht nicht zu erwarten, dass dies in Zukunft anders wird.

Es ist daher in erster Linie keine politische Frage, wie mit dem Phänomen der Partei „Die Rechte“ umzugehen ist, sondern zuvörderst eine juristische und ordnungspolitische. Es wäre denk- und machbar, diese Partei aufgrund ihrer offenen Bezüge zum Nationalsozialismus zu verbieten. Inwiefern dies bei einer 500-Mann-Partei politisch sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Ferner wäre es die Aufgabe der Ordnungskräfte, bei Demonstrationen konsequent nationalsozialistische Propaganda und Anleihen an den NS-Habitus zu unterbinden. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und dem zur Verfügung stehenden juristischen Instrumentarium wäre dies nicht nur sinnvoll, sondern auch machbar und – by the way – aufgrund gelegentlich schlafmütziger oder inkompetenter Behörden auch eine sinnvolle Parole für eine Kundgebung.

Das Kasseler Bündnis, das natürlich #unteilbar ist, ruft voller Pathos jedoch den Ausnahmezustand aus: „Wir werden es nicht zulassen, dass Neonazis und Faschist*innen einen Aufmarsch in Kassel durchführen! Ein breites gesellschaftliches Bündnis wird am 20. Juli #platznehmen […]“ Es geht nicht um die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Rechtsextremen, sondern um die Anmaßung exekutiver Gewalt. Aufmärsche zu unterbinden ist in einem Rechtsstaat Aufgabe der Polizei, sie nicht zuzulassen, die der Justiz. In der historischen Situation von 1936 in Madrid war das etwas anderes, hier blieb nichts anderes, als sich mit der Waffe in der Hand, dem Faschismus entgegenzustellen. Einen Bezug zu dieser Situation herzustellen, wie es die Parole suggeriert, ist aberwitzig und lächerlich.

Eine einzige Parallele zu 1936 gibt es dann aber doch. Man schließt in das „unteilbar“-Bündnis Demokratieverächter und Stalinisten mit ein und mit dem „Internationalistischen Bündnis“ eine Gruppe, die in Verbindung mit der antisemitischen Terrorbande DFLP steht. Was 1936 angesichts des Umstandes, dass die Westmächte England und Frankreich die spanische Republik im Stich ließen, eine Notwendigkeit und vor Madrid auch entscheidende Unterstützung war – das Bündnis mit den Stalinisten zu suchen – wäre heute absolut unnötig.

Es wäre angesichts der antisemitischen Parole der Partei „Die Rechte“ angebracht einen klaren Aufruf gegen Antisemitismus und für Israel zu verfassen. Dazu müsste man aber erkennen, dass diese Parole nur die ungeschminkte Zuspitzung einer Weltanschauung ist, die vom durchschnittlichen Spiegel-, Freitag- und SZ-Leser geteilt wird und auch von Vertretern der Regierungs- und Oppositionsparteien, von Kirchenvertretern und Protagonisten sozialer Bewegungen. Angesichts der Grundlage nationalsozialistischer Ideologie und den Erfahrungen jüdischer Menschen ist klar, dass Nazis gefährlich und eine Bedrohung für das jüdische Leben sind, allerdings ist es ebenfalls eine Erfahrung jüdischer Menschen, dass der alltägliche Antisemitismus heute vor allem andere Quellen hat unter anderem auch die, die die Agenda eines beträchtlichen Teils des unteilbaren Bündnisses ist.

Anstatt zur Blockade der Straße aufzurufen, also einer bislang nicht verbotenen Partei, das Grundrecht in einer demokratischen Gesellschaft streitig zu machen, die Öffentlichkeit zu suchen, wäre es angebracht öffentlich gegen die antidemokratischen Ambitionen dieser Partei Stellung zu beziehen. Damit wäre ein deutliches Bekenntnis zur demokratischen Republik, zu den sie konstituierenden Werten der Aufklärung und Vernunft, sowie zu ihren Institutionen und zur Gewaltenteilung verbunden. Mit einem solchen Aufruf könnte man vermeiden, dass solche Gruppen wie die MLPD, die REVO, die Internationalistische Liste, die SAV usw. usf. sich als Antifaschisten gebärden. Aber das klare Bekenntnis zur Republik und ihren Grundlagen wäre auch auch für viele Aktivisten, die den Ausnahmezustand aufgrund klimatischer Veränderungen und einer Flüchtlingsbewegungen ausrufen ein Problem und man könnte vielleicht erkennen, dass die Gefahr dieser Republik von etwas anderes ausgeht, als von einer Partei mit 500 Mitgliedern.

Colonel Dr. Martin – Ein Agent in Deutschland

Mordechai Tadmor als Korrespondent der Jerusalem Post und als Colonel Dr. Martin in Deutschland

Im Folgenden eine kurze Episode aus dem Leben Mordechai Tadmors. Er lebte als Martin Kaufmann von 1922 – 1932 in Kassel (siehe hier mehr: Ungedanken – Kassel – Tel Aviv) und hielt sich in den fünfziger Jahren offiziell als Korrespondent der Jerusalem Post in Deutschland auf. Es war seine Decktätigkeit, seine eigentliche Aufgabe war eine andere. Aber er betätigte sich trotzdem auch journalistisch. In einem Gespräch erzählte er mir:

„Ich musste ja ausgebildet werden, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung von Agententätigkeit. Klar ich wusste was man als Nachrichtenmann so macht, aber nichts davon, wie man z. B. Agenten führt. Ich absolvierte dann beim Schabak (Scherut haBitachon haKlali oder Shin Bet) einen Schnellkurs. Das war ziemlich unsolide alles und sehr spontan. Aber man sagte mir, Du wirst das schon irgendwie arrangieren. […] Sie zeigten mir wie man Geheimdokumente fotografiert, wie man tote Briefkästen anlegt, wie man Nachrichten chiffriert und dechiffriert usw.. Dann musste eine Abdeckung geschaffen werden und alles innerhalb von 14 Tagen. Heute dauert so etwas mindestens ein Jahr. So erschien ich zum einen als Korrespondent der Jerusalem Post aber ich bedurfte einer zusätzlichen Legende und in dieser sollte ich weder als Israeli noch als Deutscher auftreten, also gab man mir eine türkische Legende. So war ich dann der Colonel Dr. Martin. Das war alles ziemlich gewagt, denn ich hatte außer einem kurzen Besuch beim Militärattaché in Istanbul im Jahre 1950 mit der Türkei nie etwas zu schaffen und sprach auch kein türkisch aber ich konnte ein türkisches Lied singen und das reichte damals in Deutschland um als türkischer Offizier durchzugehen. Aber ich war auch kein ausgebildeter Journalist. Also musste ich auch in der kurzen Zeit lernen wie man Artikel verfasst, ich hatte bisher nur Dossiers über fremde Heeresabteilungen verfasst. Mein Ausbilder in Sachen Journalismus, wie man Artikel schreibt etc. war der damals bekannte Schriftsteller und Journalist Shabtay Teveth1. Leider ist er schon lange tot. Er schrieb viele Bücher, darunter eines über den 6-Tagekrieg: „Exponiert im Panzer“. Ich schulde ihm viel. Obwohl ich nur wenig Zeit hatte, brachte er mir die Elemente der Journalistik in einer Woche bei.“

Herr Tadmor erhielt als Anerkennung vom Bundeskanzler eine signierte Postkarte.

In Deutschland war Mordechai Tadmor der erste israelische Korrespondent überhaupt. In dieser Funktion lernte er Franz Josef Strauß kennen, der damals mit Shimon Peres wichtige Waffenlieferungen für Israel aushandelte. Insbesondere hatte es ihm aber Konrad Adenauer angetan. Adenauers Rolle in der Bundesrepublik sah Mordechai Tadmor vor allem im Zusammenhang mit dem Luxemburger Abkommen2 weitgehend positiv: „Konrad Adenauer und David Ben-Gurion hatten den Mut und die Voraussicht, dieses schwierige Thema anzugehen und auch durchzuführen. Die Wiedergutmachung ermöglichte letztendlich den Aufbau und die Industrialisierung Israels.“ Die Hochachtung Adenauers gegenüber beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. So erfuhr Mordechai Tadmor, dass Konrad Adenauer seine Berichterstattung schätzte. Er konnte ihn mehrfach bei seinen politischen Terminen und Wahlkampftouren begleiten.

„On the Road with Adenauer“ erschien in der Jerusalem Post am 15. September 1957. Der Artikel wurde auch in der Wochenzeitung rezipiert.

Mordechai Tadmor schrieb verschiedene Artikel für die Jerusalem Post über Adenauer. Der Artikel „On the road with Adenauer“ erzählt von einem längeren Gespräch mit Adenauer, das er auf einer der Wahlkampftouren mit ihm führte. Adenauer bekundet darin, dass er große Hochachtung gegenüber den Israelis habe und bemerkte ferner, dass er ihren Mut in den jüngsten militärischen Auseinandersetzungen bewundere. Außerdem betonte er, dass er sich zur Freundschaft zu Israel bekenne. In diesem Gespräch bemerkte Mordechai Tadmor Adenauer gegenüber, dass die Bewunderung des Mutes allein Israel im Kampf gegen die feindlich gesinnten Nachbarn wenig nützen würde. Dann sprach er seine Befürchtungen über die regen Waffenlieferungen der Sowjetunion an die arabischen Staaten an. Mordechai Tadmor beschloss den Artikel mit der Bemerkung, dass es ein seltsam beunruhigendes Gefühl für einen Israeli sei, den Deutschen Bundeskanzler bei seinen Wahlkampftouren so nahe gewesen sein zu dürfen. Doch obwohl dem Ausgang dieser Wahlen in Israel kaum Beachtung geschenkt wurde, allein die Möglichkeit eines israelischen Korrespondenten, den Bundeskanzler in dieser Form begleitet haben zu können, sei, so Mordechai Tadmor in seinem Artikel, Ausdruck Adenauers Größe.

Durch einen dummen Fehler fliegt Mordechai Tadmors Deckung als Colonel Martin auf. Für die Nazi-Zeitung Soldaten Zeitung ein gefundenes Fressen.

„Meine Arbeit war trotz der kurzen Ausbildung von Erfolg gekrönt. Sogar die Allgemeine – Wochenzeitung der Juden in Deutschland wollte mich als Redakteur und Bonner Korrespondent einstellen,“ so zog Mordechai Tadmor ein Resümee über seine Tätigkeit als Journalist. Doch die Tätigkeit bei der Jüdischen Allgemeinen blieb ihm verwehrt. Soweit kam es nicht, denn als die Deutsche Soldaten-Zeitung3 im Juli 1958 Mordechai Tadmor als israelischen Agenten aufdeckte, musste er Hals über Kopf Deutschland verlassen.

Hier kann der Text in englischer Sprache herunter geladen werden: A Spy in Germany

Eine umfangreichere Würdigung der Tätigkeiten Mordechai Tadmors nach 1945 wird in Form einer weiteren Broschüre erarbeitet.

Bisher erhältlich: Westlich des Suez

1 Shabtay Teveth, geb. 1925, gest. 2014 war Journalist, Schriftsteller und Historiker. Er schrieb unter anderem eine Biographie über David Ben Gurion.

2 Das Luxemburger Abkommen, in Deutschland auch „Wiedergutmachungsabkommen“ genannt, im englischen treffender Reperations Agreement wurde 1952 geschlossen. Deutschland verpflichtete sich damals zur Lieferung von Exportgütern und Dienstleistungen in der Höhe von 3,5 Mrd. DM und der Rückerstattung von Vermögenswerten. Dieses Abkommen konnte Adenauer nur mit den Stimmen der SPD gegen den Widerstand der Parteien der Regierungskoalition durchsetzen. Auch in der deutschen Bevölkerung fand das Abkommen nur wenig Unterstützung. Adenauer wurde vorgeworfen, ein Werkzeug des Weltjudentums zu sein. Aber auch in Israel war das Abkommen umstritten.

3 Die Deutsche Soldaten-Zeitung wurde 1950 von Nazis und ehemaligen SS-Leuten gegründet. In den späten Fünfziger Jahren übernahm der Nazi Gehard Frey die Zeitung und führte sie ab 1961 als alleiniger Besitzer unter dem Namen Deutsche Soldaten-Zeitung und National-Zeitung fort.

Wir kennen keine Volksgemeinschaft sondern nur noch Opfer

75 Jahre nach dem Bombenangriff auf Kassel: Die Tränen der Volksgenossen und die Unfähigkeit in Kassel, einer notwendigen militärischen Maßnahme gerecht zu werden.

Ein am Angriff auf Kassel beteiligter Lancasterbomber und seine Besatzung

Kassel war, wie andere deutsche Städte, mehrfach Ziel alliierter Bombenangriffe. Das Datum der gründlichsten Bombardierung Kassels jährt sich in diesem Jahr zum 75. Mal. Dies ist Anlass für eine von der HNA vorangetriebene Erinnerungsoffensive. In der HNA widmet man sich seit geraumer Zeit in regelmäßigen Abständen und in dichter werdender Folge diesem Thema mit ganzseitigen Ausführungen. Auf der Internetseite der Zeitung gibt es sogar eine eigenständige Rubrik zum Thema. Darüber hinaus hat der ehemalige Redakteur der HNA Horst Seidenfaden zusammen mit Harry Soremski (Extra-Tip) einen opulenten Band über die Erinnerungen der vom Bombenangriff betroffenen Kasseler herausgebracht. Der HNA-Journalist Thomas Siemon zog ein paar Monate später mit einem kleineren Bändchen nach. In beiden Bänden kommen sogenannte Zeitzeugen zu Wort. Seidenfaden und Soremski fügen noch weitergehende Ausführungen bei, die zur historischen und politischen Einordnung der Berichte ihrer „Zeitzeugen“ und des Angriffs auf Kassel aber buchstäblich nichts beitragen. Die Berichte der „Zeitzeugen“ drücken par excellence das aus, was den nach Deutschland einmarschierenden Alliierten unangenehm auffiel, als sie 1945 auf die Deutschen trafen: Empathielosigkeit, Selbstbezogenheit, Sentimentalität, Selbstviktimisierung und die Leugnung Nazi gewesen zu sein. Die Chronisten des Angriffs auf Kassel kommen so gut wie ohne Bezug zum Nationalsozialismus aus, kennen keine Nazis, sondern nur noch Opfer und sind zu Tränen gerührt. „Trümmer, Tod und Tränen“ heißt der eine, „Diese Tränen trocknen nie …“ der andere Band.

I. Der Luftkrieg gegen Deutschland – Eine Voraussetzung des Sieges über Nazideutschland

Die Luftangriffe auf Deutschland waren – von 1940, dem Fall Frankreichs bis 1943, der Landung der Alliierten in Sizilien – abgesehen von der „Atlantikschlacht“ und einigen Nebenkriegsschauplätzen die einzige Möglichkeit der Westalliierten direkt militärisch gegen Nazideutschland vorzugehen. Von 1941 bis 1943 trug auf dem europäischen Kontinent die Rote Armee die Hauptlast der Kämpfe gegen die Wehrmacht. Die Ausweitung der Luftangriffe der Westalliierten auf Deutschland trug dazu bei, dass beträchtliche Teile der deutschen Luftwaffe von der Ostfront abgezogen wurden. Somit entlasteten die Westalliierten die sowjetische Luftwaffe, der es im Laufe des Jahres 1943 gelang, die Lufthoheit an der Ostfront zu erringen. Insgesamt gelang es den alliierten Fliegerverbänden nach und nach, die deutsche Luftwaffe nachhaltig zu schwächen. Die Lufthoheit ist für erfolgreiche Bodenoperationen eine unabdingbare Voraussetzung und war Bedingung für die im Sommer 1944 vorgetragenen erfolgreichen und kriegsentscheidenden Offensiven in Weißrussland (Operation Bagration) und in der Normandie (Operation Overlord). Diese wichtigsten Ergebnisse der alliierten Luftkriegskampagne gegen Deutschland werden im Allgemeinen völlig ignoriert. Den Autoren über die „Bombennacht“ dürfte dieser Sachverhalt offensichtlich unbekannt oder gleichgültig sein.

Ein wichtiges Ziel alliierter Bomberverbände waren die Rüstungsindustrie und die Infrastruktur des Nazireiches. Die Angriffe störten die deutsche Rüstungsproduktion jedoch in geringerem Maß als angenommen und trotz einiger spektakulärer Erfolge, wie die gelungenen Angriffe auf die Edertal- und Möhnetalsperre, gelang es den Alliierten erst gegen Ende des Krieges die Verkehrs- und Energieinfrastruktur des deutschen Reiches lahm zu legen. Die Alliierten erreichten es auch nicht, wie ebenfalls beabsichtigt, die Moral der deutschen Bevölkerung zu brechen. Vor allem dies wird in Deutschland gegen die Luftkriegsstrategen vorgebracht. Dieser Misserfolg dient als Beweis der Nutzlosigkeit und der gleichzeitig attestierten Grausamkeit alliierter Bombenangriffe. Jenes Argument entbehrt jedoch jeder Grundlage, denn entgegen jeder vernünftigen Annahme, ließ sich die deutsche Volksgemeinschaft trotz der Zerstörung vieler ihrer Städte nicht dazu bewegen, von Judenmord und Vernichtungskrieg abzulassen. 1918 noch trugen Hungersnot und andere Entbehrungen dazu bei, dass sich die deutsche Bevölkerung zunehmend der weitaus harmloseren Kriegspolitik des Kaiserreichs widersetzte.

Der Luftkrieg wurde gegen eine Nation geführt, die die Volksgemeinschaft nicht nur propagierte sondern auch formierte und die den totalen Krieg ausgerufen hatte, den sie bis zum 8. Mai 1945 unerbittlich führte. Entgegen immer wieder kolportierten Behauptungen, der Luftkrieg sei gegen eine unbewaffnete und wehrlose Bevölkerung geführt worden, fügten die deutsche Luftwaffe und Flugabwehr den Alliierten schwerste Verluste zu. Mehr als 100.000 alliierte Bomberbesatzungen kamen bei ihren Einsätzen gegen Nazideutschland ums Leben. Die Bomberpiloten zogen einen massiven Beschuss auf sich. Die in großen Mengen im Land aufgestellten Geschütze und die Massen in die Luft geschossene Munition fehlten der Wehrmacht an anderer Stelle. Auch dies war letztendlich ein Beitrag, der zum Erfolg der alliierten Bodenoperationen beitrug, freilich zu einem hohen Preis unter den jungen Fliegern.

Im Gesamtkontext bleibt die Schlussfolgerung, dass der Luftkrieg als Bestandteil des notwendigen Krieges gegen Nazideutschland bis zur Kapitulation eine notwendige, richtige und letztendlich auch eine effektive Maßnahme war.

II. Nationalsozialismus und Volksgemeinschaft

„… Achtung, Achtung, wir geben eine Luftwarnmeldung …“, der Leser fühlt sich in die Reihen der deutschen Familie versetzt und meint den „Volksempfänger“ hören zu können.

Auf einer Doppelseite wird in Seidenfadens und Soremskis Band in großem Format der „Volksempfänger“ abgebildet. Etwas kleiner daneben ein, in nationalsozialistischer Ästhetik gehaltenes Bild einer Familie. Sie wird als „Arbeiterfamilie“ bezeichnet. Auch wenn es schon vor 1933 Radios und Familien gab, der Volksempfänger, die Abbildung desselben, sowie Bilder der einträchtig lauschenden deutschen Familie spielten eine wichtige Rolle in der Propaganda von der Volksgemeinschaft. Dieser Zusammenhang wird nicht erläutert. Berichtenswert ist den Autoren nur, dass die Kasseler das Gerät dazu nutzten, die Meldungen über die einfliegenden Bomberverbände zu verfolgen. Die Funksprüche werden zitiert. Sie sind in einem anderen Textformat gedruckt, so dass man sie zu hören meint: „Achtung, Achtung, hier ist der Befehlsstand der ersten Flakdivision“ usw. Der Leser sieht förmlich die Lautsprechermembran des Volksempfängers vibrieren und sich unter die Volksgenossen versetzt.

In beiden Büchern geht es hauptsächlich darum „Zeitzeugen“ zu präsentieren. Was wir also vor uns liegen haben ist Oral History, nur dass die grundlegende Methodik dieser historischen Betrachtung auch nicht annähernd eingehalten wird. Es fehlt durchweg die professionelle Distanz zu den Berichtenden. Völlig ungenügend ist bei Seidenfaden und Soremski die kritische Einordnung des Erzählten in den historischen Kontext, bei Siemon fehlt dies völlig. Die „Zeitzeugen“ sprechen zu lassen, hat zwar tatsächlich etwas mit Authentizität zu tun, dass sie rundweg die Stimmen der damaligen Volksgemeinschaft darstellen, wird von den Chronisten jedoch entweder nicht bemerkt, oder schlicht ignoriert. So ist die ungefilterte und unkommentierte, häufig auf Emotionen setzende Reproduktion dieser Stimmen der Grundtenor sowohl Seidenfadens und Soremskis als auch des kleineren Bändchens Siemons.

Folgendes muss vom Leser, auf dessen Emotionen ungehemmt gesetzt wird, unbegriffen bleiben. Der deutsche Nationalsozialismus war im Wesentlichen eine Konsensdiktatur. Der 1933 anfänglich vor allem von Kommunisten, verschiedenen kleineren sozialistischen und anarchistischen Gruppierungen und einigen Einzelpersonen heroisch vorgetragene Widerstand gegen die Nationalsozialisten war schnell gebrochen. Die Volksgemeinschaft formierte sich so schnell, wie sich die 1933 schnell gefüllten Konzentrationslager im Laufe der dreißiger Jahre wieder leerten. Mit der Verfolgung der Kommunisten, den Kampagnen gegen „Asoziale“ und „Volksschädlinge“, mit der Etablierung des Reichsarbeitsdienstes und der Kraft-durch-Freude-Kampagne stieß das Regime auf Zuspruch in der Bevölkerung, der noch Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus einen deutlichen Widerhall fand. „Damals herrschte noch Zucht und Ordnung“, „Hitler gab uns Brot und Arbeit“, „Damals konnte man Nachts noch auf die Straßen gehen“ usw. waren häufig zu vernehmende Äußerungen der ehemaligen Volksgenossen, wenn sie mit Kritik der Jüngeren konfrontiert wurden. Der antifaschistische Widerstand war dagegen isoliert. Seine Protagonisten galten bei Vielen noch Jahrzehnte nach dem Ende des Regimes als Verräter. Der schlimmste Feind der Aufrechten war nicht etwa die GESTAPO, sondern das weit verbreitete Denunzianten- und Spitzeltum.

An zwei Stellen werden in Seidenfadens und Soremskis Buch Juden erwähnt. Ein Onkel einer „Zeitzeugin“ war mit einer Jüdin verheiratet. Der Onkel und seine jüdische Frau starben beim Angriff. Der Tod einer (sic!) Jüdin wird also in einem Buch erwähnt, das sich dem Jahr 1943 widmet. Die „Täter“ sind britische Bomber. Ein Inhaber einer Druckerei, die 1933, „als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen“, geschlossen wurde, weil Juden zu den Kunden gehörten, ist die zweite Stelle, an der erwähnt wird, dass es Juden in Kassel gab. Und es ist die einzige Stelle, an der das Jahr 1933 erwähnt wird. Dass es in Kassel vor 1933 ca. zweitausend Juden gab und 1943 keine mehr, das fällt unter den Tisch. Keiner der „Zeitzeugen“ erinnert sich daran, dass es Juden in der Stadt gab, dass antisemitische Propaganda den Alltag beherrschte, dass mit der Reichspogromnacht auch in Kassel 1938 ein Zeichen gesetzt wurde, dass spätestens jetzt alles anders als zuvor war. Keiner erinnert sich daran, dass die letzten Kasseler Juden 1942 vor aller Augen durch die Stadt zum Bahnhof auf eine „Reise“ geschickt wurden, von der sie nie wieder kamen. Antisemitismus als Bestandteil der Politik der Formierung der Volksgemeinschaft wurde von den „Zeitzeugen“ nicht als Schrecken wahrgenommen. Antisemitismus war Alltag und Normalität.

Im Frühjahr 1941, nach der Eroberung Frankreichs und vor dem Einmarsch in die Sowjetunion sah sich der Nationalsozialismus auf dem Zenit seiner Macht. Er war nicht nur die militärisch dominante Macht auf dem Kontinent, er erreichte zu diesem Zeitpunkt auch den Höhepunkt der Zustimmung in der deutschen Bevölkerung. Das war in Kassel nichts anders. Die beiden 1984 und 1987 von der IAG Nationalsozialismus an der Uni Kassel publizierten Bände „Volksgemeinschaft und Volksfeinde“ zeichnen ein detailliertes Bild der Situation in Kassel. Der Politikwissenschaftler Jörg Kammler resümierte die Situation wie folgt: „[…] Widerstandskämpfer gerieten durch Zerschlagung ihrer Gruppen […] in die Situation isolierter, gehetzter und ohnmächtiger einzelner […] Verweigerung und Aufbegehren in der Kasseler Arbeiterschaft während des Krieges [war] in erster Linie die Sache der ausländischen Arbeiter.“

Erst gegen Ende des Krieges schwand die Zustimmung zum Regime. Ein großer Teil der Bevölkerung nahm Hitler die Formierung der Volksgemeinschaft genauso wenig übel, wie die Ermordung der Juden. Nicht das unvorstellbare Ausmaß an Leid und Gräuel, dass deutsche Truppen in Europa, vor allem in Polen, auf dem Balkan und in der Sowjetunion verbreiteten, trug dazu bei, dass sich kleinere Gruppen in der deutschen Gesellschaft gegen Hitler richteten, sondern die sich ab 1944 abzeichnende Gewissheit, dass der Endsieg ein leeres Versprechen war und Hitler der dafür verantwortliche miserable Heerführer. Neben einer ausgeprägten Weinerlichkeit der besiegten Volksgenossen, für die beide Bände über die „Bombennacht“ stehen, hielt sich die Enttäuschung über Hitlers Versagen als Heerführer noch lange Jahre nach der Niederlage.

III. 1943

1943 – „Es war ein wunderschöner Herbsttag, der Himmel war wolkenlos …“

Seit 1939 zogen deutsche Verbände mordend und plündernd durch Osteuropa, über den Balkan und dann durch die Sowjetunion. Die letzten verbliebenen Juden wurden 1942 aus den deutschen Städten vor aller Augen in die Vernichtungslager deportiert. Die Volksgenossen teilten, in fester Gewissheit, dass die jüdischen Nachbarn nicht mehr wiederkehren, die Besitztümer der Deportierten unter sich auf. In fast allen Ländern Europas wurden von deutschen Trupps Juden aufgespürt, gejagt, deportiert und ermordet. In Leningrad verhungerten von 1941 bis 1943 unter der Blockade der deutschen Wehrmacht über eine Million Menschen. In Warschau wurde 1943 das Ghetto liquidiert. Die dort zusammengepferchten jüdischen Bewohner wurden zu zehntausenden in die Vernichtungslager verschleppt und der im April 1943 begonnene Aufstand der letzten verzweifelten Bewohner des Ghettos niedergeschlagen. Überlebende gab es so gut wie keine. Ein Jahr später wurde, aus Rache für den Aufstand der Bevölkerung Warschaus, die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht.1943 wurden in Auschwitz, Sobibor, Maidanek, Treblinka und Trostinez, bei unzähligen Menschenjagden und Massenerschießungen in der Sowjetunion, in Jugoslawien und in Polen Leichenberge in unvorstellbaren Ausmaß produziert. 1943 ist das Jahr, in dem in Weißrussland über 5.000 Dörfer komplett vernichtet wurden.

Hitler war 1943 seit zehn Jahren an der Macht. In Kassel jedoch war bis 1943 die Welt, so wie es beiden Erinnerungsbänden zu entnehmen ist, in Ordnung. Seidenfaden und Soremski beginnen ihr Buch mit dieser Überschrift: „Es war ein wunderschöner Herbsttag, der Himmel war wolkenlos …“. Ein entsprechendes idyllisch gehaltenes Bild von Spaziergängern an der Schönen Aussicht soll diesen Eindruck illustrieren. Die Autoren kommen, wenn sie von Kassel erzählen, aus dem Schwärmen nicht heraus. „Es war, daran erinnern sich noch heute alle Überlebenden, ein wunderschöner Herbsttag. Dieser 22. Oktober 1943.“ Seidenfaden und Soremski ergehen sich in der Beschreibung der Stadt vor dem Angriff in Superlativen. Um die Situation vor dem Angriff zu beschreiben, ist es ihnen offensichtlich wichtig zu betonen, dass die Altstadt „wunderschön“ gewesen sei. Sie schreiben von „schönsten und prächtigsten“ Gebäuden, davon, dass die Stadt 1943 „in voller Schönheit“ stand und die Innenstadt Kassels vor „Lebensfreude sprühte“. Sie schreiben von singenden Kindern, die „Bunt sind schon die Wälder“ gesungen haben, von Café-Besuchern usw.. Nicht fehlen darf natürlich der Hinweis, dass die prächtige Stadt eine 1000-jährige Stadt war. Zu dem sich aufdrängenden Zusammenhang mit dem von den Nazis propagierten Anspruch, ein 1000-jähriges Reich gegründet zu haben, fällt den beiden Autoren natürlich auch nichts ein.

Die Kasseler Innenstadt „sprühte vor Lebensfreude“

IV. Das Grauen ereilt die Stadt

Dann „ereilte“ aber „das Grauen“ die Stadt, wie es in der HNA in einer Besprechung am 19.06.2018 heißt und die „vor Lebensfreude sprühende“ Stadt war, als ob es 1933 nie gegeben hätte, „mit einem Schlag“ Geschichte. Über den „Alltag mit seinen normalen Abläufen und Routinen“ brachen eine Katastrophe und eine Tragödie herein. Seidenfaden und Soremski lassen nicht unerwähnt, dass Kassel ein wichtiges Zentrum der Rüstungsindustrie und deswegen Ziel britischer Angriffe war und sie erwähnen in einigen Zeilen auch die Besatzungen der britischen Bomber, von denen viele den Krieg nicht überlebten. Sie erwähnen stellvertretend für die, die beim Einsatz über Kassel ihr Leben ließen, das Schicksal einer Fliegerbesatzung. Genaue Zahlen nennen sie, die an anderer Stelle die gefallenen Bomben penibel katalogisieren und auflisten, jedoch nicht. Es müssen etwa 250 – 300 junge Männer gewesen sein, die beim Einsatz gegen Kassel umkamen.

Wenn es um den Zusammenhang des Angriffs und die Rolle Kassels als Rüstungsstandort geht, kommen die Autoren nicht über floskelhafte Plattitüden hinaus. Welche Rolle die Stadt und die Bevölkerung in der Nazizeit spielten, wird ganz weggelassen. So heißt es seltsam unbestimmt, „man produzierte Militärfahrzeuge“. Wer dieses man war, wozu hier Rüstungsgüter produziert wurden, wird nicht weiter ausgeführt. Der HNA-Journalist Siemon führt in einem (in Zahlen 1) Satz im Vorwort seines Bombenbändchens aus, dass der Auslöser der Zerstörung der deutsche Angriffskrieg und die Luftangriffe auf London waren. Näher wird auf Angriffskrieg und deutsche Luftkriegsstrategie auch hier nicht eingegangen.

Seidenfaden und Soremski wissen aber, dass 1943 „Luftmarschall Arthur Harris, genannt ‚Bomber Harris‘, entschieden [hatte], dass am Abend Kassel angegriffen werden sollte. Der Grund, so Seidenfaden und Soremski, „war die positive Wetterprognose.“ Gutes Wetter also war der Auslöser des Angriffs auf Kassel. Das Stichwort „Bomber Harris“, so darf man annehmen, fällt hier nicht zufällig. Wenn er diesen Namen hört, geht dem erinnerungsbeflissenen Deutschen das Messer in der Hose auf. Nähere Ausführungen zum Luftkrieg sind dann gar nicht mehr nötig, die Chronisten haben den Leser da wo sie ihn haben wollen, als Ankläger eines sinnlosen, grausamen und willkürlichen Angriffs unter dem, wie es die VVN-Kassel anführt, die Stadt und die Bewohner zu leiden hatten.

V. Das Essen und das Inferno

Es sind die Erinnerungen verschiedener damals jüngerer oder älterer Volksgenossen oder ihrer unmittelbaren Angehörigen, denen sich beide Bände ausführlich widmen. Die Autoren reflektieren und analysieren dabei in keiner Weise, was diese Leute von ihren Erlebnissen vom 22. Oktober erzählen. Auffällig ist, sie erzählen von Gulasch, von Pellkartoffeln, von Kaninchenbraten, von Jagdwurst, von Kuchen, von Pudding usw. Es sind Erinnerungen aus einer Zeit, in der vor allem die Sowjetunion systematisch geplündert und das Verhungern der dort lebenden Bevölkerung billigend in Kauf genommen wurde, teilweise sogar Ziel der deutschen Besatzungspolitik war. 1944 wiederholte sich das Gleiche auch mit den Niederlanden. Aber auch Länder wie zum Beispiel Frankreich, Griechenland und Norwegen wurden mit einer ausgetüftelten und perfiden Besatzungspolitik systematisch ausgeplündert.

Andere „Zeitzeugen“ erzählen von Café- und Kinobesuchen, von Ausflügen mit singenden Kindern usw. und verdeutlichen damit, dass für die deutsche Bevölkerung die Welt 1943 offensichtlich noch in Ordnung war. Nur die von Seidenfaden und Soremski erwähnten Todesanzeigen in den Zeitungen, die sich häufen, machen deutlich, dass etwas nicht stimmte. Es handelte sich um die immer häufiger werdenden Anzeigen der gefallenen Wehrmachtssoldaten. Wo und warum sie fielen, ist den Chronisten keine Ausführung wert.

Um so plötzlicher der Luftangriff. „Die Mutter hatte am Nachmittag im Ufa-Filmtheater noch den Film ‚Münchhausen‘ mit Hans Albers gesehen. Und dann der Angriff.“ Die britischen Flieger läuteten die „Todesstunde“ der Stadt Kassel ein und auf 1.000 Jahre Geschichte folgte der 22. Oktober 1943, „die Nacht, in der Kassel starb …“. Seitenlang liest man in beiden Büchern dann Geschichten über die in Kellern erstickten Opfer, von Leichenbergen, die wiederholt abgebildet werden, es wird von verkohlten Leichen erzählt, von brennenden Menschen, von Ruinen, vom Pfeifen und Krachen der Bomben, von im Stakkato auf die Altstadt prasselnden Bomben, von heißen Feuern in der Innenstadt, von Phosphor, von Flächenbränden, Druckwellen, Sogwirkung, von Trümmern und verwüsteten Straßenzügen. Kurz: Es wird ein Inferno beschrieben, das der massive Angriff für die Bewohner Kassels bedeutete. Dass Kriegshandlungen gegen einen hochgerüsteten, zutiefst amoralischen und zu allem entschlossenen Feind jedoch voller Gewalt sein müssen, das fällt bei dieser Betrachtung notwendig unter den Tisch. Die Erinnerungsbände sind so konzipiert, dass das Inferno für sich sprechen und Betroffenheit und Mitleid mit den leidenden Volksgenossen auslösen soll.

VI. Die „Zeitzeugen“ und der Nationalsozialismus

Auffällig ist, dass im „Alltag und seinen normalen Abläufen“ der Nationalsozialismus wenn überhaupt, dann nur sehr beiläufig vorkommt. Von Nationalsozialismus und Nazis ist bei den „Zeitzeugen“ keine Rede. Die „Zeitzeugen“ oder ihre Angehörigen waren, so wie es viele Deutschen nach 1945 behaupteten, keine Nazis. Sie waren Luftwaffenhelfer, Flakhelfer, Soldaten der Wehrmacht auf Fronturlaub oder „irgendwo in Frankreich“, sie waren als Soldaten mit Aktensichtung beschäftigt, mit Helfen beim Aufräumen oder Bergen. Andere „machten Kriegseinsatz bei Henschel“, waren Sanitätssoldaten, Wirtsleute, es gab freundschaftliche Nachbarbeziehungen „zum Fleischer, zum Bäcker, zum Inhaber des Zigarrengeschäfts […] bei dem es immer mal was Süßes gab“, es gab Straßenbahner, Wachhabende der Luftschutzwache, einen Lehrling bei Henschel-Flugmotoren, eine Verkäuferin bei Kaufhof. Dass das Kaufhaus „Kaufhof“ 10 Jahre zuvor einer jüdischen Familie gehörte und Tietz hieß, ist den Chronisten keine Erwähnung wert.

Einmal wird erwähnt, dass „die Jungs der Hitlerjugend und die Mädchen des Bundes Deutscher Mädels“ für die an der Front kämpfenden Soldaten an verschiedener Stelle einspringen mussten. Aber Hitlerjunge oder BDM-Mädel war dann jedoch keiner der „Zeitzeugen“. Man „ehelicht 1939 unter der Fahne […] Und kurz danach, am 29. September, feiert man das 50-jährige Bestehen der Gaststätte.“ Es fällt der Begriff „Kinderlandverschickung“. Ein deutscher Jagdflieger hatte „seinen ersten Einsatz während des Spanischen Bürgerkrieges mit der Legion Condor.“ Fachleute wissen, was es mit der „Legion Condor“ auf sich hat. Dem Kasseler Publikum wird die Waffenhilfe der Nazis für die blutrünstigen Franco-Faschisten, die aus Freiwilligen bestand, vorenthalten. Selbstverständlich ist auch der Angriff der Legion Condor auf die damals tatsächlich völlig wehrlose Stadt Guernica keine Zeile oder auch nur eine Fußnote wert. Über eine „Horst-Wessel-Mittelschule“ gibt es nichts weiter zu sagen außer dem Umstand, dass sie nach dem Angriff zerstört war.

Dann an einer Stelle bekommt man eine Ahnung davon, dass es so etwas wie einen politischen Konflikt in Kassel gegeben haben muss. Es wird Reinhard Henschel, Sprössling der Industriellenfamilie Henschel, zitiert, der in Ankara als Diplomat an der deutschen Botschaft tätig war. Seine Ausführungen über den Generaldirektor der Firma, der mit „Braunhemden“ in Konflikt gerät, werden zitiert. Man erfährt jedoch nichts über den Konflikt im Henschelwerk, weder ob es ihn gegeben hat noch über die Geschichte des Werkes während des Nationalsozialismus. Seidenfaden und Soremski werfen dem ratlosen Leser ein paar Brocken nebulöser Gedanken Henschels hin: „Da kann man lange philosophisch über Gesetz und Recht meditieren, Entscheidung schafft doch letztendlich nur die innere Betroffenheit. […] es war richtig gewesen, den Brief an Churchill zu schreiben.“ Dass Henschel zum erweiterten Umfeld des Widerstandes des 20. Juli gehörte, wird nicht erwähnt. Die sich daraus ergebenden Fragen, „Was für eine Entscheidung?“, „Warum ein Brief an Churchill?“, „Was versteht Henschel unter Recht und Gesetz und in welchem Zusammenhang sinniert er über diese Frage?“ werden nicht aufgegriffen. Der Leser wird ratlos zurückgelassen. Es wird nichts dazu ausgeführt. Wichtig ist den beiden Chronisten nur, dass Henschel in seinem Erinnerungsbuch über Kassel ein paar Seiten geschrieben hat und über die toten Arbeiter, die zerstörten Fabrikgebäude und die darniederliegende Produktion sinniert.

Das Schützengrabenerlebnis als authentisches Dokument der „Opfer“ präsentiert. Wer genau hinschaut erkennt ein „HJ“.

Nazis, politische Verfolgung, Bücherverbrennung, Reichspogromnacht, Deportation der jüdischen Bürger Kassels, Judenmord, Raub- und Vernichtungskrieg, alles das scheint es in Kassel nicht gegeben zu haben oder ohne die Kasseler bewerkstelligt worden zu sein. Einen Nazi erwähnen Seidenfaden und Soremski dann aber doch. Sie erwähnen, dass Gauleiter Karl Weinrich die Volksgenossen in der „Todesstunde“ ihrer Stadt im Stich gelassen hätte und angesichts der britischen Bomber das Weite im sicheren Bad Hersfeld suchte. Darüber sind Seidenfaden und Soremski sichtlich empört und fahren schweres Geschütz auf. Kein geringerer als Goebbels selbst wird herangezogen, um Weinrich eine „traurige Rolle“ zuzuschreiben und ihn als „jammervollen“ und „feigen Deutschen“, der „keine Leuchte“ gewesen sei, zu überführen. Goebbels dagegen, so wissen Seidenfaden und Soremski zu berichten, sei im offenen Wagen durch die Stadt gefahren, um sich davon zu überzeugen, dass die den „vom Luftterror betroffenen Städte und Regionen“ geltenden Hilfs- und Fürsorgemaßnahmen angelaufen sind.

Andere zeigten mehr Mut als Kassels einziger Nazi und kämpften tapfer gegen die von „Bomber Harris“ geschickten Flieger und die Flammen. Auch für einen Flakschützen war der 22. Oktober ein „völlig normaler Tag“. Als aber dann gemeldet wurde, dass die britischen Bomber Kassel ansteuern, da wusste er, „jetzt wird es ernst […] und dass es um die ganze Stadt geht.“ Er und seine Kameraden haben „geschossen was die Rohre hergaben.“ Ein selbstgemaltes Bild des Kanoniers darf nicht fehlen, um den Lesern das Schützengrabenerlebnis der Flakgeneration zu vermitteln. Auch dem schon erwähnten deutschen Jagdflieger wird sich gewidmet. Am „Himmel über Kassel schoss Radusch […] drei britische Bomber ab“ schildern Seidenfaden und Soremski dessen „Heldentaten“. In jedem dieser Flieger saßen bis zu sieben Mann, die gegen Nazideutschland zu Felde ziehen mussten, weil die deutsche Volksgemeinschaft sich hinter den Führer scharte. Es handelte sich um bestätigte Abschüsse, wer in diesen Bombern saß und zu Opfern des Nazifliegers wurden, erfährt der Leser nicht.

Mit diesem mehr als dürftigen Bezug zum Nationalsozialismus fallen die Chronisten der Bombennacht selbst weit hinter die den historischen Gegenstand notorisch trivialisierenden Fernsehsendungen des Geschichtsonkels Guido Knopp zurück. Knopp widmete sich allen möglichen „Helfern Hitlers“ und vor allem sein Nachfolger Sönke Neitzel erwähnt, dass die deutsche Wehrmacht und die ihnen unterstellten Verbände völkermordend durch Europa zogen. Beide stellen Nationalsozialismus und Krieg in einen, wenn auch unzureichend analysierten, Zusammenhang. Sie stehen für das, was als state of the art in Sachen popularisierter Aufarbeitung deutscher Geschichte gelten kann: Wenn man von Opfern unter den Deutschen spricht, soll man auch von den Opfern der deutschen Täter nicht schweigen.

Die wichtige Frage des HNA-Journalisten Siemon: „Kann es zur Bombennacht […] eine Liebesgeschichte geben?“. Ein „Opfer“ mit Wehrpass und Erinnerung …

VII. Volkssturmprosa und „Lehren“ aus der Geschichte

Den Zusammenhang von schlechtem Geschmack und Unvermögen zur kritischen Reflektion beweisen Seidenfaden und Soremski, indem sie die pennälerhaften Strophen eines dichtenden Feuerwehrhelden nicht etwa in Ausschnitten und beispielhaft kritisch analysieren, sondern dessen Zeilen vollumfänglich auf den mit Brandspuren, Schmutz- und Stockflecken eingefärbten Hochglanzseiten ihres Bandes präsentieren. Dieser Look soll wohl Authentizität suggerieren. Ein Gedicht oder ein Poem, dem mit graphischen Effekten förmlich Authentizität angeheftet werden soll und das nicht durch sich selbst spricht, ist billiges Kunsthandwerk. Doch nicht nur das, aus dem über mehrere Seiten abgedruckten „Gedicht“ spricht aus jeder Strophe der Jargon der Volksgemeinschaft.

„Die Sirenen heulten, es war der 16. Fliegeralarm // nehme mein Kind noch schnell auf den Arm.“ […] „In die Kohlenstraße bog ich ein, // das Jaulen der Stabbrandbomben ging mir durch Mark und Bein. // Ein Splittern, Krachen und Knallen // die ersten Stabbrandbomben waren gefallen.“ […]„Entwarnung war gegeben. // In die Straßen und Gassen kam Leben // Es war förmlich zu spüren, // jeder der konnte, wollte sich rühren. // Schüler, Jugendliche, Frauen und Greise // jeder halt auf seine Weise. //“ „Aus zahlreichen Stahlrohren, Wasserkanonen und Feuerlöschturm // bekämpften die Menschen den Feuersturm.“ […] „Was gab’s da noch zu hoffen, die Stadt war nach oben vollkommen offen. // Durch eine menschliche Schweinerei, wurden gewaltige Energien frei.“ […] „In ein und ein halber Stunde wurden in dieser Nacht, // dreizehntausend Menschen umgebracht.“

Volkssturmprosa auf sechs Seiten. Das Papier mit Stockflecken ist Design.

Das ist Volkssturmprosa. Die Volksgemeinschaft, bewaffnet mit Rohren und Kanonen, erhebt sich im Feuersturm und scheitert an den „gewaltigen Energien“, die, so raunt der Verseschmied, von „menschlichen Schweinereien“ freigesetzt wurden und eine „offene Stadt“ trafen. Ob der Nationalsozialismus mit „menschliche Schweinerei“ gemeint ist, der „gewaltige Energien“ freigesetzt hat, oder die auch Destruktionskräfte freisetzende Erfindungsgabe der Menschen ganz allgemein, oder ob gar die Royal Air-Force gemeint ist, das bleibt unklar. 13.000 Menschen wurden von gewaltigen Energien „umgebracht“, sprich ermordet. 13.000 Kasseler, die bei dem Angriff ums Leben kamen, werden so zu wehr- und arglosen Menschen, zu Opfern einer vorsätzlichen Tat. Insbesondere der Terminus „offene Stadt“ verdreht die Betroffenheitsprosa zur offenen Lüge. Auch wenn unter den Opfern des Bombardements Kinder, Zwangsarbeiter und sicher auch einige Gegner des Regimes waren, Goebbels hätte es nicht besser hinbekommen. Der unkommentierte Abdruck dieses „Gedichts“, oder dieses als authentisches Zeugnis eines „schrecklichen Krieges“ (Knopp) zu präsentieren, bezeugt, dass weder Seidenfaden noch Soremski wissen was sie tun, wenn sie unbefangen „Zeitzeugen“ aus der Volksgemeinschaft präsentieren. Das Pendant auf anderer Ebene dazu bietet Siemon, der einen Herrn aufbietet, der davon zu erzählen weiß, dass es auch die Zeit für Liebesgeschichten unter den Volksgenossen gab. Dummdreist hält der heute alte Mann seinen Wehrpass ins Bild. Drückeberger? Nein, das war auch er nicht!

Die Stumpfheit einerseits und die Unfähigkeit der Volksgenossen andererseits, wenigstens Scham wenn schon nicht Empathie den unzähligen Opfern des deutschen Vernichtungskrieges gegenüber zu empfinden, wird deutlich, wenn z.B. eine Kasselerin räsoniert, dass sie „in der Bombennacht […] ihren Glauben an einen gütigen und gerechten Gott“ verloren hat. Sie verliert nicht etwa darüber ihren Glauben, dass der Vater als Schichtführer „kriegswichtige Aufgaben“ in der Spinnfaser AG erfüllte, also Anteil daran hatte, was deutsche Soldaten in Europa vorsätzlich anrichteten und für das kein gütiger oder gerechter Gott sich eine angemessene Strafe hätte je ausdenken können. Wenn ein anderer feststellt, dass an „diesem Tag […] die Normalität meines Lebens beseitigt“ war sollte doch die Frage nahe liegen, was denn als Normalität alles gelten konnte, wenn deutsche Einsatzkräfte zur gleichen Zeit Millionen Menschen ermordeten. Die „Zeitzeugin“, die resümiert, dass der 22. Oktober das Ende ihrer Kindheit bedeutete und dann ausführte, dass es nun „mit Kriegseinsätzen“ weiterging, die ihre „Lehr- und Wanderjahre“ waren und dann sogar feststellt, dass diese Jahre „wichtige Jahre“ waren, denn sie führten zu „Menschenkenntnis [und] Berufserfahrung“, verblüfft angesichts ihrer Empathielosigkeit (selbst angesichts der zu Tode gekommenen Kasseler).

Es finden sich schließlich noch einige „Zeitzeugen“, die Lehren aus dem Ganzen ziehen. „Der Krieg sei ein scheußliches Kapitel in ihrem langen Leben gewesen,“ meint die eine und dem anderen fällt Europa ein, wenn er an den Krieg zurückdenkt. „Wenn ich an den Krieg zurückdenke, werden die Streitereien der letzten Jahre um Europa […] zu Kleinigkeiten.“ Wenn der Volksgenosse schon nicht gelernt hat, dass er einer der Millionen Co-Autoren scheußlicher Kapitel für Zigmillionen Europäer war, so weiß er wenigstens, dass die geläuterten Deutschen den Europäern heute erzählen müssen, was Kleinigkeiten sind und was nicht.

Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass es kein zu bedauerndes individuelles Leid auch unter den Individuen der Volksgemeinschaft gab und gibt, auch nicht, dass den Angehörigen der vielen Toten und Überlebenden die individuelle Trauer verwehrt werden soll. In Sachen Nationalsozialismus sollte aber klar sein, dass jede öffentliche Zurschaustellung individuellen Leids der Angehörigen der Täternation zwangsläufig zur grundsätzlich verkehrten Darstellung der Rolle der Volksgemeinschaft als Opfer eines „schrecklichen Krieges“ führt. Das wird grundsätzlich auch nicht besser, wenn erwähnt würde, dass es den Nationalsozialismus als historische Rahmenbedingung gab, dass Kassel Rüstungsstandort war und dass die Verfolgten und die gefallenen und verletzten Alliierten auch Opfer des Krieges waren. Bedingt durch die gesellschaftliche und politische Verfasstheit des Nationalsozialismus führt der Terminus „Opfer des Krieges“ und ein, den Deutschen zugedachter Opferstatus, immer zur Täter-Opfer-Umkehr.

Die vielen Artikel der HNA zum Thema und die beiden Bände zur „Bombennacht“ führen diese Verkehrung exemplarisch vor. Und wenn man dann auch noch sein Buch theatralisch „Diese Tränen trocknen nie …“ nennt, lässt sich sogar Vorsatz unterstellen. Bei „Trümmer, Tod und Tränen“ ist dies auch nicht besser. Und wie zum Beweis führt ein anderer Journalist der HNA vor, wie der Zusammenhang sich herstellt. Wolfgang Blieffert zitierte am 14.02.2018 in der HNA den in Sachen Nationalsozialismus notorischen Gerhard Hauptmann wie folgt: „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens“ und beansprucht dann aber „vorurteilsfrei und sachlich über den Krieg“ zu diskutieren. Aber er plaudert aus, was neben der unübersehbaren Emotionalisierung das Ziel der Kampagne ist: Es ginge um den überfälligen „Prozess der deutschen Selbstversöhnung“. Auf dem Klappentext des Bandes von Seidenfaden und Soremski heißt es, er soll als „Mahnmal für Frieden, Verständigung und Versöhnung“ stehen. Versöhnung angesichts Auschwitz kann jedoch nur obszön sein, Selbstversöhnung auch.

VIII. Resumee

Der Klappentext Siemons Bändchens führt aus, er sei ein „Buch von Zeitzeugen für Zeitzeugen und gegen das Vergessen.“ Die „Zeitzeugen“ fungieren hier als der Sprecher der Unwahrheit über den Nationalsozialismus. Sie reden von Normalität, wenn es darum gehen sollte, vom Grauen zu zeugen, an dem sie direkt oder indirekt beteiligt waren und sie reden über das Grauen, als es darum ging, mit notwendiger Gewalt das Grauen zu überwinden. Sie verschweigen also durchweg die Wahrheit des Nationalsozialismus und werden zu Zeugen der Unwahrheit. Es ist nicht so, dass nicht auch ein vom Bombardement Betroffener als Zeuge historischer Wahrheit dienen könnte. Es wird nur kein einziger von den Chronisten präsentiert. Dass diesen beiden Bänden trotzdem so viel Aufmerksamkeit gezollt wird, im Buchhandel sogar die Rede davon ist, es würden Analysen präsentiert, ist so bestürzend wie aussagekräftig.

Die politische Schlussfolgerung, die aus der sogenannten Bombennacht, bzw. aus dem Bombenkrieg gegen Deutschland zu ziehen ist, ist nicht etwa „Bomber Harris do it again“. Diese Parole hatte als politische Provokation in Zeiten allgemeiner nationaler Besoffenheit im Zuge der deutschen Wiedervereinigung ihre Berechtigung. Sie ist heute, gegen Sachsen gerichtet, angesichts vor allem (aber nicht nur) dort auftretender Nazi-Gruppen, die auf einhellige Ablehnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft stoßen, aber nur noch abgeschmackt. Die Schlussfolgerung aus dem Krieg gegen NS-Deutschland, den die Alliierten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln vortrugen, ist, dass Ideologien und Herrschaftsverhältnissen, wie dem Nationalsozialismus und den Versuchen, seine ihm wesentlichen Ziele zu verfolgen, kompromisslos entgegen getreten werden muss. In der Bundesrepublik tut das mal mehr mal weniger ausreichend die Polizei. Auf internationaler Ebene gegen Regime vorzugehen, die danach trachten, in die Fußstapfen Nazideutschlands zu treten, tut sich allein die Regierung der Vereinigten Staaten hervor. Deutschland dagegen spielt in diesem Zusammenhang oft eine undurchsichtige Rolle.

Tätern, Politikern und Staatsführern dieser Kategorie kann nur unverblümt beigebracht werden, dass der Preis ihrer Untaten so hoch ist oder sein wird, dass sie von ihren Vernichtungsvorsätzen und Taten ablassen. Dazu fehlten den Alliierten bis zum Mai 1945 jedoch die Mittel. Die Bombardierungen waren wie schon erwähnt auch ein Versuch der Abschreckung. Dass die Annahme, die Moral der Volksgenossen mittels einer verschärften Bombenkampagne brechen zu können eine Fehlannahme war, oder dass Deutschland nicht heftig genug bombardiert wurde, ist den Verantwortlichen in den Stäben der Alliierten von damals aber nicht anzulasten.

„So etwas darf sich nie wiederholen“ stellt der Chronist Siemon im Interview seiner Zeitung fest. (HNA, 05.09.2018) Damit treffen sich die Chronisten und „Zeitzeugen“ mit jenen, die zwar auch die Nase über diese beiden Bände und die HNA rümpfen, die aber der Auffassung sind, der Welt den Frieden erklären zu müssen und die, wenn sie über den Nationalsozialismus reden, das Wort Faschismus in den Mund nehmen. Sie stehen sich näher als sie sich darüber bewusst sind und betreiben das gleiche Geschäft. Sie meinen mit „Nie wieder“ nicht das Fehlen, einer zur schnelleren Niederwerfung Nazideutschlands anwendbaren effektiveren Waffentechnologie, oder das Ende der dreißiger Jahre zulange zögerliche Handeln der Alliierten, Nazideutschland entgegen zu treten. Nein, diese Floskel drückt den klammheimlichen Wunsch nach „Nie wieder Krieg gegen Faschismus“ aus.

Leitfaden für Britische Soldaten in Deutschland 1944: Alles in allem ist der Deutsche nämlich brutal, solange er siegreich bleibt, wird aber selbstmitleidig und bettelt um Mitleid, wenn er geschlagen ist.

Horst Seidenfaden, Harry Soremski, Diese Tränen trocknen nie … Die Kasseler Bombennacht vom 22. Oktober 1943, B & S Siebenhaar Verlag, Berlin Kassel 2018, 156 Seiten, 29,80 €

Thomas Siemon, Trümmer, Tod und Tränen. Überlebensberichte aus der Kasseler Bombennacht 1943, Wartberg Verlag, Gudensberg 2018, 63 Seiten, 12,90 €

IX. Literatur

Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Bonn 2005

Götz Aly und Karl-Heinz Reuband, Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2006

Autor_Innenkollektiv „Dissonanz“ (Hg.), Gedenken Abschaffen. Kritik am Diskurs zur Bombardierung Dresdens 1945, Berlin 2013

Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007

Beutelsbacher Konsens, Bundeszentrale für Politische Bildung 2011

Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupation des deutschen Faschismus, 1938 – 1945, 8 Bde., Hg. Bundesarchiv und einem Kollegium unter Leitung von Wolfgang Schumann und Ludwig Nestler, Köln, Berlin, Heidelberg 1988 ff

Tilman Krause, Für Gerhart Hauptmann hatte sich Hitler „bewährt“, 2009, in: Welt

Leitfaden für Britische Soldaten in Deutschland 1944, Köln 2014

Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Hamburg 2002

Richard Overy, Der Bombenkrieg. Europa 1939 – 1945, Berlin 2014

Cord Pagenstecher, Oral History als Methode, Bundeszentrale für Politische Bildung, 2016

Volksgemeinschaft Volksfeinde, Kassel 1933 – 1945, 2 Bde, Hg., W. Frenz, J. Kammler, D. Krause-Vilmar, Fuldabrück 1987

 

Sally Kaufmann – Herausgeber und Zionist aus Nordhessen

Langfassung als PDF: Sally Kaufmann – Herausgeber und Zionist

Sally Kaufmann lebte von 1918 bis 1932 in Kassel. Er wurde 1890 in Ungedanken bei Fritzlar als Sohn des Lehrers Markus Kaufmann und dessen zweiter Ehefrau Betty geboren. Kaufmann wollte, wie sein Vater, Lehrer werden. Weil dieser jedoch schon 1893 starb, erlernte er nach dem Schulbesuch den Beruf des Kaufmanns um seine Familie finanziell unterstützen zu können. 1915 wurde Kaufmann in die kaiserliche Armee eingezogen und an die Front geschickt. An der Somme wurde er 1916 schwer verwundet und lag bis 1918 in verschiedenen Lazaretten. Nach den Lazarettaufenthalten besuchte Kaufmann die Abendschule, engagierte sich zunächst in der Kriegsblindenfürsorge und war als Geschäftsführer eines Glas- und Porzellangeschäfts in der Kasseler Innenstadt tätig. 1921 machte er sich mit der Gründung eines Lebensmittelladens in der Hohentorstraße selbständig. Kaufmann war seit 1924 Vorstandsmitglied der Kasseler Gruppe des Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF)1 und in der Kasseler Zionistischen Gruppe2, später auch im Elternbeirat der Jüdischen Volksschule, aktiv. 1924 gründete er, zunächst im Auftrag der Jüdischen Gemeinde Kassels, die Jüdische Wochenzeitung für Cassel, Hessen und Waldeck. Ende der zwanziger Jahre war er dann Verleger diverser Zeitungen in verschiedenen Städten Deutschlands und organisierte Lesungen und Kulturabende in Kassel.

Sally Kaufmanns Verlag Jüdischer Gemeindeblätter. Anzeige aus dem Jahr 1931

In der ersten Ausgabe der Jüdischen Wochenzeitung formulierte Dr. Josef Prager3 die Ausrichtung der Zeitung wie folgt: „[…] in der Zeit des Aufbaus wollen auch wir daran gehen, den Ausbau des Alten und den Aufbau des Neuen mit aller Kraft vorzunehmen. […] jetzt […] finden sich alle diejenigen zusammen, die, unbeschadet ihrer verschiedenen Grundeinstellung, in dem Ziel einig sind, dem Judentum zu dienen, für seine äußere Würde und Sicherheit einzutreten, und an der Verbreitung jüdischen Wissens, der Vertiefung aller jüdischen Interessen mitzuarbeiten.“ Was jedoch dem Judentum am besten dient und in seinem Interesse sei, genau hierüber entbrannte sehr bald ein heftiger Streit auch in Kassel. Die Zeitung sollte laut Prager zwar „keiner Partei dienstbar sein“, sondern „alle Fragen behandeln, und alle Nachrichten vermitteln, die zu kennen für die Juden jeglicher Partei wichtig sind“ und wenn auch die gegensätzlichen Standpunkte der jüdischen Fraktionen und die Nachrichten aus der Gemeinde und etliche historische Abhandlungen über das nordhessische und Kasseler Judentum publiziert wurden, so lässt sich feststellen, dass die Jüdische Wochenzeitung die Zeitung der Kasseler Zionisten war.

Auch kulturelle Abende, hier ein Jüdischer Vortragsabend, wurden vom Verlag Sally Kaufmanns organisiert. Anzeige aus dem Jahr 1929.

Als Verfechter des Zionismus unter den Kasseler Autoren der Jüdischen Wochenzeitung sind vor allem Julius Dalberg4, Dr. Hermann Kugelmann5 und Walter Bacher6 zu nennen, die wie Kaufmann in der Kasseler Zionistischen Gruppe sowie auch in der zionistisch ausgerichteten Volkspartei aktiv waren. Zahllose Artikel der Jüdischen Wochenzeitung sind ohne Nennung eines Autors. Sally Kaufmann bezeichnete sich in einem Artikel als Schriftführer und war als Herausgeber und Redakteur verantwortlich für die nicht namentlich gekennzeichneten Artikel. Ob ein Teil der Artikel von ihm selbst stammt, ist ungewiss. Sie könnten auch von Dalberg, Bacher, Kugelmann oder anderen stammen. Von Sally Kaufmann gezeichnete Artikel sind nur wenige zu finden. Sie haben das Kürzel „Kfm.“ Möglicherweise sind auch die mit einem „K.“ gekennzeichneten Artikel ihm zuzuordnen.

Hier sollen die Artikel vorgestellt werden, die mit „Kfm.“ gekennzeichnet sind. Sie sind in den Jahren 1924 – 1926 veröffentlicht worden. Auch wenn Sally Kaufmann in einer Auseinandersetzung mit der Jüdischen Gemeinde seine Neutralität als Berichterstatter betonte und er im Jahr 1925 seine Position als zweiter Vorstand in der Zionistischen Ortsgruppe abgab, sind seine Sympathien eindeutig zu identifizieren.

Der erste von Kaufmann unterzeichnete Bericht ist ein Artikel über einen Vortragsabend des führenden Mitglieds des RjF, Segelfliegers und ehemaligen Kampffliegers des Ersten Weltkrieges, Jakob Ledermann7. Der Abend wurde vom Landesverband des RjF ausgerichtet. Kaufmann fasste in seinem Artikel, der am 31.10.1924 in der Jüdischen Wochenzeitung erschien, die von Ledermann propagierten Aufgaben des RjF so zusammen:

Der RjF sei „kein Kriegerverein [..], sondern [habe] in erster Linie die Aufgabe, die Wacht am Grabe der gefallenen 12.000 jüdischen Soldaten gegenüber Schmähungen und Verdächtigungen zu halten. Der RjF werde es nicht dulden, daß die Toten sowie die Lebenden an ihrer Ehre gekränkt und mit Haß und Mißgunst überhäuft würden. Ein vorzügliches Mittel in der Abwehrbewegung sieht Ledermann in der körperlichen Ertüchtigung der jüdischen Jugend. Schon von frühester Jugend an gehöre die Jugend in die jüdischen Sportvereine. Es ist dieses das große Verdienst des RjF, daß er die Turn- und Sportbewegung unter der jüdischen Jugend fördert, da dadurch immer weitere Kreise erfaßt werden, die sich teilweise früher ablehnend verhalten haben. Ledermann appelliert an die Anwesenden, besonders aber an die jüdische Jugend, eifrig Turnen und Sport zu treiben, und auf dem Wege der körperlichen Ertüchtigung weiter fortzuschreiten. Wer Turnen und Sport treibt, vermeide auch die Likörstuben und trete auch nach außen einfach und schlicht auf. Nur in einem gesunden Körper wohnt eine gesunde Seele.“

Kaufmann bezeichnete Ledermann als sympathischen Redner, der seinen einstündigen Vortrag so gestalten konnte, dass er das Publikum und offensichtlich auch Kaufmann bis zum Schluss fesselte.

Der nächste, ein am 28.11.1924 veröffentlichter Artikel, befasste sich mit einer Versammlung des Centralvereins (CV).8 Der Bericht über die Versammlung des CV, der sich schon 1925 erbitterte Auseinandersetzungen mit den Zionisten lieferte, ist nicht anders als wohlwollend zu bezeichnen. Der Artikel verweist darauf, dass Kaufmann dem Gebot der journalistischen Objektivität folgen konnte, wenn er wollte.

Kaufmann erwähnte zunächst die fruchtbare Zusammenarbeit des CV mit dem RjF im Abwehrkampf9: „Für den letzten Reichstagswahlkampf wurden von hier überall Redner gesandt, um auf den Landgemeinden den völkischen Agitatoren entgegenzutreten. Besonders bewährte sich die Arbeitsgemeinschaft mit dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, der stets dabei war, wenn es galt, den Antisemitismus zu bekämpfen. Auch bei dem diesmaligen Wahlkampf steht der R.J.F. mit dem Centralverein zusammen und hat sein Bureau Friedrich-Wilhelmsplatz 2 zum Abwehrkampf eingerichtet.“

Eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Völkischen nahm dabei das juristische Vorgehen gegen die „Protokolle der Weisen von Zion“ ein.  Kaufmann berichtete weiter: „Herr Dr. Holländer10, der nun das Wort ergriff, sprach über ‚Neue Wege der praktischen Arbeit‘. Seine Ausführungen, die mit starkem Beifall aufgenommen wurden, […] waren bemerkenswert. Besonders interessant war, wie er den Werdegang dieser Fälschung beschrieb. Er bezeichnete es als Barbarei, daß es heute noch möglich sei, eine solche Fälschung in die Welt zu setzen, die auch geglaubt würde, ohne daß der Beweis dafür von dem Fälscher gefordert würde.“

Kaufmann schloss den Artikel mit einem Problem ab, das schon vor der Machtübernahme der Nazis existierte und bis heute aktuell ist:  „Als besonders gefährlich schildert mit Recht Holländer die Boykottdrohungen, die besonders aus Pommern kommen, wo jüdischen Geschäften der Boykott angedroht sei. Einen sog. ‚trockenen Pogrom‘, wie Wulle ihn nennt. Auch dagegen sei der Centralverein gerüstet. Er schloß damit, daß er versicherte, daß der Centralverein jederzeit auf dem Platze sei, wenn es gelte, für Deutschland und Judentum zu kämpfen.“

Im Januar des Folgejahres lässt sich im Artikel über den Delegiertentag der deutschen Zionisten Kaufmanns politische Positionierung deutlicher herauslesen. An diesem Delegiertentag in Wiesbaden war der, wie es Kaufmann anmerkte, vom zahlreichen Publikum stürmisch begrüßte, Prof. Dr. Weizmann11 zugegen, der auch bei Kaufmann einen bleibenden Eindruck hinterließ. Kaufmann zitierte in seinem am 2. Januar 1925 erschienen Artikel die von Weizmann aufgegriffene und auf die aktuelle Entwicklung in Palästina umformulierte Botschaft Theodor Herzls12: „Er [der Zionismus; d.V.] ist aus der Zeit der Hoffnung auf ein Wunder auf das Gebiet der Wirklichkeit gelangt“ und schloss die Ausführungen über Weizmanns Ausführungen mit der Benennung des Zwecks des zionistischen Projekts ab, dass „Palästina das einzige Land der Welt ist, das ungehindert Juden einlasse, nachdem die Tore Amerikas für die Juden fast verschlossen sind. Welcher Jude würde es wagen, so schließt Prof. Weizmann, heute, wo besonders im Osten eine furchtbare Judennot bestände, seinen Arm gegen den Aufbau Palästinas zu erheben?“

Der Konflikt mit dem Centralverein, der auf dem Delegiertentag einen Widerhall fand, wurde von Kaufmann wie folgt geschildert: „Zur innerjüdischen Politik stellte der Redner [Kurt Blumenfeld13; d.V.] fest, daß der deutsche Zionismus niemals – wie der Centralverein – nationale Autonomie für die deutsche Juden gefordert hat. Gegen die antizionistische Wahlparole des Centralvereins wandte sich Blumenfeld mit großer Schärfe und unter dem lebhaftesten Beifall des ganzen Delegiertentages; insbesondere mit dem Argument, daß der Centralverein das ganze deutsche Judentum uniformieren möchte und jeden ächte, der nicht hinein paßte.“

Darauf folgte von Kaufmann ein Artikel über die Hauptversammlung des Centralvereins in Berlin, der sich u.a. mit der Frage der Unterstützung des russischen Projektes „ORT“14 befasste. Kaufmann meinte, dass die Unterstützung der Tätigkeit des „ORT“ durch den Centralverein auch von den Zionisten, von denen er in diesem Zusammenhang von „wir Zionisten“ spricht, positiv vermerkt werden müsse, denn für „[…] diese Aktion [setzen sich] auch diejenigen Kreise ein, die vor nicht langer Zeit erklärt haben, es sei ein Verbrechen, wenn das in Deutschland gesammelte Geld einem ausländischen Land zugeführt würde.“ Und Kaufmann begann dann gegen seinen politischen Gegner regelgerecht zu keilen, indem er im Folgenden bissig bemerkte, „ […] ein bekannter deutscher Rabbiner verstieg sich zu dem ungeheuerlichen Ausspruch, daß es Landesverrat sei, Geld nach Palästina für den Keren Hajessod15 zu geben“ und merkte dann schon fast süffisant an, „und jetzt stehen gerade diese Kreise auf und fordern die deutschen Juden auf, ihr Geld nach Rußland für die Umschichtung der russischen Juden zu geben.“ Der Herausgeber der Jüdischen Wochenzeitung griff diese Haltung des CV in seinem Artikel nochmals auf, um dann gegen den CV zu polemisieren:

„Wie ist es nun möglich, daß auf einmal ein großer Umschwung in der Ansicht der früheren Leute im C.V. stattgefunden hat? Ja, zur selben Zeit, in der die eingangs erwähnte Versammlung stattfand, in der sich der Vorsitzende des C.V. erfreulicherweise für eine Sammlung für ein außerhalb Deutschlands liegendes Werk einsetzt, finden wir in der C.V-Zeitung einen Angriff auf den Keren Hajessod, der aus einer amerikanischen Zeitung entnommen ist und in der es heißt, ‚daß es eine Sünde ist, von den Juden dieser Länder (Deutschland, Polen, Rumänien usw.) soviel Geld ins Ausland zu senden, wenn es doch so dringend nötig in der Heimat gebraucht wird, um die Not in der Heimat zu heben‘. Das Organ des C.V. bemerkt dazu: ‚Wir haben nichts weiter hinzuzufügen.‘ Besteht nicht darin eine große Unlogik, daß man für die Sammlung in Rußland eintritt, und mit demselben Argument gegen eine Sammlung in Palästina ist? Oder liegt Rußland nicht mehr im Ausland?“

Auch in Kassel wurde der Konflikt mit Schärfe geführte. Den Zionisten wurde völkisches Denken und Nationalismus vorgehalten, die Zionisten warfen dem Centralverein einen nicht zu rechtfertigenden Alleinvertretungsanspruch, mangelnde Unterstützung bedürftiger Juden und mangelnde Unterstützung der jüdischen Auswanderung nach Palästina vor. Kaufmann steuerte mit seinem letzten persönlich gezeichneten Artikel eine scharfe Polemik bei. In einer am 14.05.1926 veröffentlichten Replik stellte er die, seiner Auffassung nach, unlauteren Methoden der Gegner des Zionismus bloß. In seinem mit „Darf man die Wahrheit über Palästina sagen?“ überschriebenen Artikel griff er in aller Schärfe einen als Kronzeugen präsentierten Autor an, auch indem er seine persönliche Integrität in Frage stellte. In der Jüdisch-liberalen Zeitung konnte ein Joachim Fischer, der sich länger in Palästina aufhielt, gegen den Zionismus Stellung beziehen.15 Kaufmann machte sich zunächst darüber lustig, dass der Autor Fischer seinen „ehrlichen“ Namen Chaim gegen Joachim ausgetauscht habe und durchschaute die bis heute gern verwendete Methode, mangels eigener überzeugender Argumente, jemanden in Stellung zu bringen, der allein aufgrund seiner Herkunft und / oder der vermeintlich oder tatsächlichen Lebenserfahrung nur Recht haben könne. Er schrieb, man solle sich vergegenwärtigen, mit welchen Mitteln „gegen das Aufbauwerk in Palästina gehetzt wird, wer die Kronzeugen der Gegner sind.“

Dann wird Fischer als Bankrotteur und Opportunist dargestellt, der Frau und Kinder mittellos zurückgelassen habe und Kaufmann schloss seine Polemik mit folgender Bemerkung launisch ab: „Wer dächte [im Falle Joachim Fischer; d.V.] nicht an den Schmock aus Freytags ‚Journalisten‘, der ‚da kann schreiben rechts und kann schreiben links?‘ Nur daß Schmock ein ehrlicher armer Teufel war und nicht Frau und Kinder im Stich gelassen hat. Mancher, der sich für den Aufbau Palästinas interessiert – auch der Nichtzionist – wird dabei an Friedrich des Großen Ausspruch beim Anblick gefangener Banduren denken: ‚Und mit solch einem Pack muß ich mich herumschlagen!’“

Kaufmanns Bericht über den 14. Zionistenkongress in Wien

Der 1925 von Kaufmann verfasste Bericht über den 14. Kongress der Zionisten sei zum Schluss nochmal ausführlich zitiert. Er drückt am deutlichsten Kaufmanns Haltung zum Zionismus aus.

„[…] der Kongreß [ist] das geblieben, was er von Anfang an war und als was sein Schöpfer sich ihn gedacht hat: die sichtbarste und repräsentativste Manifestation des Zionismus‘ und die stärkste Betonung des jüdischen nationalen Lebenswillens. Der Kongreß ist eine Erscheinung von stärkstem Interesse und seltenem Reiz für jeden, der Gelegenheit hat, daran teilzunehmen. Schon seine Zusammensetzung und die Art seiner Teilnehmer machen ihn zu einem Ereignis von ungewöhnlicher Art. Kaum ein zweiter nationaler Kongreß dürfte eine solche Mannigfaltigkeit und Differenziertheit unter seinen Delegierten, Journalisten und Gästen aufzuweisen haben, wie der Kongreß der Zionisten. Alle Länder der Welt, wo Juden wohnen, sind bei diesem Kongreß vertreten. […] Auch der entschiedenste Gegner der zionistischen Bewegung kann nicht bestreiten, dass in den 28 Jahren, seitdem durch Theodor Herzl diese jüdische Tribüne errichtet wurde, diese Bewegung ein großes Stück weitergekommen ist. Wohl demonstrieren wir auch heute durch unseren Weltkongreß, um der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit zu zeigen, daß der Zionismus lebt und daß er zu stärksten Potenz im jüdischen Leben geworden ist. Aber der Zionistenkongreß ist längst nicht bloß eine Demonstration, denn wenn er auch nur alle zwei Jahre für eine kurze Zeitspanne zusammentritt, so zeigt er der Welt mehr als eine Heerschau über die Stärke der zionistischen Bewegung. Aus den Ideen einzelner und den Forderungen, die eine kleine Zahl von Menschen vor achtundzwanzig Jahren erhoben hat, sind inzwischen Realitäten geworden, die in der Welt der Tatsachen ihre Geltung gefunden haben. Die stärkste Realität ist das jüdische Palästina mit seinen wachsenden Städten, blühenden Kolonien, der auffallenden hebräischen Sprache und seinen arbeitenden Menschen. Diese Realitäten, von denen dieser Kongreß ein klares und umfassendes Bild gibt, sind die stärkste Grundlage für die weitere Existenz des jüdischen Volkes in der Gegenwart und für sein schöpferisches Leben in der Zukunft.“

Die Begeisterung, die dieser Kongress bei dem Berichterstatter auslöste, kann dieser kaum verhehlen, im Gegenteil: In der Beschreibung einzelner Szenen des Kongresses wird diese unmissverständlich deutlich. Den Auftritt Weizmann schilderte Kaufmann wie folgt: „Schon viele Stunden vor Beginn der Eröffnungssitzung war die Straße, in der der Kongreß tagte, schwarz von Menschen. Das Konzerthaus, ein Bau größer als die Stadthalle, konnte kaum die Hälfte der Menschen fassen, die Einlaß begehrten. Der Saal bietet mit seiner kunstvollen, vornehmen Ausstattung eine herrliche Umgebung für die Beratungen dieses Parlaments. Um 7.15 Uhr wird es plötzlich totenstill im Saal. Die Exekutive tritt ein. Dr. Weizmann schreitet zum Präsidentenpult. Und plötzlich bricht eine ungeheure stürmische Ovation los, die nicht enden will.“

Das Ende der Eröffnungsszene fasste Kaufmann, merklich in pathetischer Stimmung, wie folgt zusammen: „Und nun ist der Kongreß eröffnet. Zwei Jahre mühevoller Arbeit der zionistischen Organisation sind abgeschlossen, eine neue Arbeitsperiode, nicht minder mühevoll und schwer, hat begonnen. Der brausende Gesang der nationalen Hymne, in die die gewaltige Versammlung einstimmt, schließt wirkungsvoll die Eröffnungssitzung.“

Ein Ereignis trübte dann doch auch Kaufmanns begeisterte Berichterstattung über den Kongress. Eine nicht „unerhebliche“ Zahl an Hakenkreuzlern marschierten in Wien auf, um die Veranstaltung zu stören. Doch wurden sie von der „Polizei in andere Teile der Stadt abgedrängt, so daß die Begrüßung der Delegierten durch die Wiener zionistische Organisation völlig ohne Störung verlief.“ Kaufmann schrieb damals optimistisch, „man hat überhaupt den Eindruck, als ob die Wiener Bevölkerung mit Bedauern die Demonstrationen der Hakenkreuzler betrachtet“ und stellte fest, dass sie „zum großen Teil […] aus Deutschland gekommen sind, um anläßlich des Kongresses im Trüben zu fischen.“

Nach 1926 sind dann keine persönlich gezeichneten Artikel Kaufmanns mehr zu finden. Lediglich einige redaktionelle Bemerkungen und Hinweise finden sich hier und da, in denen er vor allem seine journalistische Integrität verteidigt. Die hier dargelegte Positionierung und Schärfe seiner Polemik findet sich nicht mehr. Angesichts des eingangs dargelegten, von Prager formulierten Anspruchs der Zeitung, drängt sich die Interpretation auf, dass sich Kaufmann als Herausgeber nicht zu sehr mit seinen eigenen Positionen exponieren wollte.

Die Erklärung „In eigener Sache“ vom 19.12.1930 schildert eine Auseinandersetzung mit einem Vertreter der Gemeindeältesten und dem Kreisvorsteher Lazarus, die der Jüdischen Wochenzeitung tendenziöse Berichterstattung vorwarfen. Dieser Vorwurf wurde in einer Erklärung der Gemeindeältesten entkräftet, eine Erklärung die in Abwesenheit Julius Goldbergs zustande kam, wie Sally Kaufmann betonte.

Die Tätigkeit als Verleger und Herausgeber trugen zu Wohlstand und gesellschaftlicher Reputation der Kaufmanns bei. Ende 1927 konnten sie sich in der Kölnischen Straße 77 ein Haus kaufen, in welchem sie ab 1931 eine großzügige und modern eingerichtete, von Kaufmann als „alles in gut-bürgerlicher Ausstattung“ beschriebene, Wohnung bewohnten. Kaufmann erwähnte 1955 in einem Schreiben an das Regierungspräsidium Kassel (die Entschädigungsbehörde), dass sich in der Wohnung u.a. eine Original-Radierung von Hermann Struck17 als auch eine wertvolle Bibliothek befanden. Das ehemalige Hausmädchen Katharina Kamman berichtete, dass die Kaufmanns häufig und viel Besuch empfingen. Von als eher in ärmlich und bescheiden zu bezeichnende Verhältnissen lebend, hatten es die Kaufmanns zu etwas gebracht.

Aufgrund wiederholter Konflikte mit dem damals in Kassel als Rechtsanwalt und Stadtverordneter der NSDAP tätigen Roland Freisler beschloss Kaufmann mit seiner Familie Kassel 1932 zu verlassen. Kaufmann ging nach Belgien. Der Rest der Familie verließ Kassel, um vorübergehend in Darmstadt bei den Eltern von Helene Kaufmann unter zu kommen. Sally Kaufmann arbeitete zunächst in Belgien als Korrespondent für die Frankfurter Zeitung um dann mit seiner Familie im April 1933 nach Palästina auszureisen.

Kaufmanns Schwager und Prokurist seines Verlages, Ludwig Goldberg (Eleasar Gilad)18, führte die Jüdische Wochenzeitung noch bis in den April 1933 weiter, bis sie dann in ihrem 10. Erscheinungsjahr eingestellt wurde und Goldberg, wie er notiert, alles zurücklassend „Hals über Kopf flüchten“ musste. Die Kaufmanns reisten, wie der Sohn Mordechai Tadmor (Martin Kaufmann) berichtete, aufgrund eines „Kapitalistenzertifikates19 nach Palästina ein. Der größte Teil ihres Vermögens, der Hausbesitz, wie die Einrichtung der Wohnung und vermutlich große Teile der wertvollen Bibliothek, gingen jedoch verloren. Und so wie Arnold Zweig20, der einer der wichtigsten Autoren der Jüdischen Wochenzeitung war, und viele andere Jeckes, geriet Sally Kaufmann in Palästina nach seiner Ankunft schnell mit der Realität im Jishuw in Konflikt. Kaufmann weigerte sich, Hebräisch zu sprechen und konnte in keiner Hinsicht an seine gesellschaftliche Reputation und seinen wirtschaftlichen Erfolg, den er in Kassel erreichen konnte, anknüpfen. Versuche sich selbständig zu machen scheiterten. Schwer krank, in Kassel bis heute weitgehend vergessen, starb Sally Kaufmann verarmt21 1956 in Givayatim.

1 Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) war die Organisation der jüdischen Soldaten in Deutschland. 1919 gegründet, hatte er zeitweilig bis zu 55.000 Mitglieder. Der RjF war vor allem im Kampf gegen den Antisemitismus aktiv und vertrat mehrheitlich eine Politik der jüdischen Assimilation. 1938 wurde er zwangsweise aufgelöst.

2 In Kassel organisierte sich als lokale Organisation die Zionistische Gruppe, deren Vorsitz bis 1925 Dr. Hermann Kugelmann und Sally Kaufmann und dann Julius Dalberg und Dr. Willy Weisbecker innehatten. Deutschlandweit organisierte sich 1894 die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZvfD). Ihre Mitgliederzahl erreichte 1923 33.000, ging dann aber wieder zurück. Bis 1933 hatte das Hauptaugenmerk dieser Bewegung, die Einwanderung nach Palästina zu fördern, nur einen geringen Erfolg. Als Vertretung des Zionismus innerhalb der deutschen jüdischen Organisation trat die „Jüdische Volkspartei“ in Erscheinung, die in Kassel von Dr. Kugelmann und Dr. Weisbecker in Hessen Nassau u.a. von Josef Prager repräsentiert wurden. Auch in Kassel gab es eine heftige Auseinandersetzung mit den Vertretern des Centralvereins (CV; vgl. FN 8). In den Beilagen der Jüdischen Wochenzeitung (Mitteilungen der Zionistischen Ortsgruppe und Mitteilungen des Centralvereins, Ortsgruppe Kassel) im Jahr 1925 sind die gegensätzlichen Positionen beider Seiten dokumentiert.

3 Josef Prager, geb. 1885 (Hannover) – gest. 1983 (Haifa), Arzt, Vertreter der Jüdischen Volkspartei für Hessen Nassau, wanderte 1932 nach Palästina aus.

4 Julius Dalberg, geb. 1882 in Essento (Marsberg) – ermordet 1943 (Sobibor), Rechtsanwalt, im RjF und in der Zionistischen Gruppe Kassel aktiv, Vertreter der Gemeindeältesten der Jüdischen Gemeinde in Kassel. Von den Nazis 1933 schwer misshandelt, floh er nach Ende 1933 nach Holland.

5 Dr. Hermann Kugelmann, geb. 1891 (Witzenhausen) – gest. 1975 (Witzenhausen), Rechtsanwalt. Führendes Mitglied der Jüdischen Volkspartei in Hessen Nassau und Kassel. 1936 nach Palästina ausgewandert, nach dem Krieg nach Kassel zurückgekehrt. Kugelmann vertrat zeitweilig die Familie Kaufmann in den Verfahren der Entschädigung als Verfolgte des Nationalsozialismus.

6 Walter Bacher, geb. 1892 (Breslau) – ermordet 1944 (Buchenwald), Lehrer, Aktivist des RjF und der Zionistischen Ortsgruppe Kassel, kehrte nach einer Reise nach Palästina im Jahr 1936 nach Deutschland zurück. 1938 versuchte er mit seiner Frau vergeblich Deutschland zu verlassen. 1941 nach Riga deportiert.

7 Jakob Ledermann, geb. 1894 – gest. 1947 (Tel Aviv), Lehrer. Im Ersten Weltkrieg Kampfflieger, bis 1933 Generalsekretär des RjF.

8 Der bereits 1883 gegründete Centralverein (CV) war der größte jüdische Verband in der Weimarer Republik. Er positionierte sich gegen den Zionismus und sah sein Hauptbetätigungsfeld im Kampf gegen den Antisemitismus und gegen die Boykottbewegung.

9 Der Abwehrkampf war eines der Hauptbetätigungsfelder des CV. Abwehrkampf bezeichnete die juristische, agitatorische und vom RjF auch handgreiflich geführte Auseinandersetzung gegen die völkischen und antisemitischen Gruppierungen, deren Tätigkeiten 1922 mit der Ermordung Walter Rathenaus und 1923 mit einem Pogrom im Berliner Scheunentorviertel unrühmliche Höhepunkte fanden. Insbesondere richtete sich der Abwehrkampf gegen die antisemitische Boykottbewegung und gegen das weite Verbreitung findende antisemitische Pamphlet der „Protokolle der Weisen von Zion“.

10 Ludwig Holländer, geb. 1877 (Berlin) – gest. 1936 (Berlin), führender Aktivist und Jurist (Syndicus) für den Centralverband. Publizist und seit 1922 Chefredakteur der Centralverband-Zeitung.

11 Chaim Weizmann, geb. 1874 (Pinsk, Weißrussland) – gest. 1952 (Rechovot, Israel), Chemiker. Präsident der Zionistischen Weltorganisation, 1949 – 1952 Staatspräsident Israels

12 Der 1902 erschienene utopische Roman „Altneuland“ Theodor Herzls trug den Untertitel: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen.

13 Kurt Blumenfeld, geb. 1884 (Marggrabowa, Ostpreußen) – gest. 1963 (Jerusalem), Jurist und Parteisekretär der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Generalsekretär des zionistischen Weltverbandes, seit 1936 Direktor des Keren Hayesod (vgl. FN 15), zog 1945 nach Palästina.

14 ORT = Organisation – Reconstruction – Training. 1880 in Russland zur Berufsausbildung von Juden in Russland gegründet. Vorübergehend auch in der Ansiedlung von Juden in einem Ansiedlungsrayon tätig. Seit 1921 als internationale Organisation in Berlin zur Ansiedlung und Berufsausbildung von Einwanderern nach Palästina / Israel tätig.

15 Der Keren Hayesod wurde 1920 auf dem Zionistischen Weltkongress zur Förderung der Einwanderung und Integration von Juden in Palästina / Israel gegründet. Hauptsächlich aktiv in der Spendensammlung.

16 Der Artikel erschien am 7. Mai 1926 in der Jüdisch-liberalen Zeitung in einem bis heute bei Antizionisten beliebten Duktus unter der Überschrift: „Warum soll man nicht die Wahrheit über Palästina veröffentlichen dürfen?“ Aber im Gegensatz zu Antizionisten von heute, stellt Fischer in erster Linie die Hoffnung auf eine positive Entwicklung der Wirtschaft der Einwanderungsgesellschaft in Frage. Die Jüdisch-liberale Zeitung erschien von 1920 bis 1936 und wurde von Julius Loeb in Breslau herausgegeben. (Vgl. Jüdisch-liberale Zeitung)

17 Hermann Struck, geb. 1876 (Berlin) – gest. 1944 (Haifa), Struck war um die Jahrhundertwende ein einflussreicher Zeichner, Maler, Radierer und Lithograf, der einige bekannte Porträts schuf. In Palästina half er bei der Gründung des Tel Aviv Museum of Art.

18 Goldberg war mit Mathilde Enoch, der jüngeren Schwester Helene Kaufmanns, verheiratet.

19 vgl.: Palästina als Zufluchtsort der Europäischen Juden. BpB, 16.09.2014

20 Arnold Zweig, geb. 1887 (Glogau) – gest. 1968 (Ost-Berlin), Schriftsteller (Der Streit um den Sergeanten Grisha; Das Beil von Wandsbek); in den zwanziger Jahren Anhänger des Zionismus, floh 1934 nach Haifa. Schon 1932 änderte sich seine Haltung zum Zionismus. In Palästina geriet er auch aufgrund seiner Bevorzugung der deutschen und jiddischen Sprache und als Vertreter einer Politik der Aussöhnung mit den Arabern in Konflikt mit jüdisch-nationalistischen Gruppen des Jishuw. Zweig kehrte 1948 nach Ost-Deutschland zurück, in der DDR Kulturfunktionär.

21 Die Abteilung für Sozialarbeit in Tel Aviv bescheinigte den deutschen Wiedergutmachungsbehörden im Jahr 1955, dass der mittlerweile schwer erkrankte Sally Kaufmann über kein Vermögen und nur über ein unzureichendes Einkommen verfügte.

Über Sally Kaufmann und seinen Sohn Mordechai Tadmor ist der Blogbeitrag Ungedanken – Kassel – Tel Aviv  veröffentlicht worden, indem auf die etwas ausführlichere Broschüre über die Familie Kaufmann verwiesen wird.
Einige Angaben über die Familie Kaufmann sind auf der Internetseite des Vereins Stolpersteine in Kassel zu finden.
Der Kasseler Historiker Dietfrid Krause-Vilmar hat der Zeitung Sally Kaufmanns ebenfalls ein paar Absätze in seinem Aufsatz „Juden in Kassel. Ein Blick in die Vergangenheit der älteren Jüdischen Gemeinde“ gewidmet.