Der Draht läuft über Isolationsrollen und war elektrisch geladen: durch ihn wurde ein tödlicher Starkstrom geleitet, der jede Fluchtmöglichkeit ausschloß. Dieses elektrifizierte System war anfangs nicht eingeführt. Ursprünglich ging durch den Drahtverhau kein elektrischer Strom. Der Übergang zum elektrischen System wurde durch folgenden Vorfall hervorgerufen. Im Mai 1942 erschlug eine Gruppe russischer Kriegsgefangener, die Erschossene im nahe liegenden Krempezker Wald begraben sollten, mit ihren Spaten sieben deutsche Wächter und flüchtete. Zwei von ihnen wurden gefangen, die übrigen fünfzehn entkamen. Da wurden die imLager verbliebenen hundertdreißig Kriegsgefangenen (von den tausend im August 1941eingelieferten Kriegsgefangenen waren nur hundertdreißig am Leben geblieben) in den Block übergeführt, wo die Häftlinge aus der Zivilbevölkerung untergebrachtwaren. Eines Abends Ende Juni entschlossen sich die russischen Kriegsgefangenen, als sie sahen, daß sie hier sowieso zugrunde gehen würden, zu einem Fluchtversuch. Einige Dutzend der Häftlinge gingen nicht mit. Die Kriegsgefangenen sammelten alle vorhandenen Bettdecken, legten sie zu je fünf Stück zusammen, breiteten sie als Brücken über den Stacheldraht aus und flohen. Die Nacht war finster, nur vier derFlüchtlinge wurden erschossen, die übrigen entkamen. Die zurückgebliebenen fünfzig Mann wurden sofort nach Entdeckung der Flucht in den Hof geführt, mußten sich auf die Erde legen und würden aus Maschinenpistolen erschossen. Doch die Deutschen begnügten sich nicht mit dieser Strafmaßnahme. Die gelungene Flucht blieb eineTatsache, und die Deutschen elektrifizierten eiligst vier der fünf Blocks. Nur einer der Blocks war nicht elektrifiziert: dort befanden sich Frauen, von denen man wohl schwerlich einen Fluchtversuch erwarten konnte. Wir gelangen zu einem anderen Nebenblock. Er ist weniger sorgfältig abgezäunt als die Wohnblocks. Daran ist übrigens nichts Erstaunliches, denn hierher kamen die Toten oder Halbtoten oder solche, die unter verstärkter Bewachung zur Tötung vorgesehen waren. Hier, hinter diesem Draht, lebte, mit Ausnahme der SS und der Leichenverbrennungsmannschaft niemand länger als eine Stunde.
Mitten auf einem leeren Feld sehen wir einen hohen viereckigen Schornstein aus Steinen mit einem anschließenden langen, niedrigen rechteckigen Ziegelsteingebäude. Das ist das Krematorium. Es ist vollkommen erhalten geblieben. Etwas weiter finden wir die Überreste eines großen Ziegelsteinbaus: In den wenigen Stunden, die der Lagermannschaft zwischen der Nachricht vom Durchbruch der Front und der Ankunft unserer Truppen zur Verfügung standen, versuchte sie, die Spuren zu verwischen. Sie schaffte es nicht, das Krematorium in die Luft zu sprengen, aber das Nebengebäude setzten sie in Brand. Trotzdem legen die Spuren ein beredtes Zeugnis ab. Ein fürchterlicher Leichengestank erfüllt die Luft. Die Nebenräume des Krematoriums bestehen aus drei Hauptkammern. Die eine Kammer ist vollgestopft mit halbverbrannten Kleidungsstücken. Das sind die noch nicht weggebrachten Kleider der letzten Gefangenen, die hier ermordet wurden. Von derKammer nebenan ist nur ein Teil der Wand übriggeblieben. In diese Wand sind mehrere Rohre kleineren Durchmessers eingelassen als die in der Gaskammer, die wir schon gesehen haben. Das ist auch eine Gaskammer zur Vergiftung (bisher ist noch nicht aufgeklärt, ob mit »Zyklon« oder mit einem anderen Gas). Wenn besondersviele ausgerottet werden sollten, konnte die Hauptgaskammer nicht alles bewältigen, und ein Teil der Menschen wurde hierhergeführt und unmittelbar neben dem Krematorium »vergast«. Die dritte und geräumigste Kammer war offenbar für die Aufstapelung der Leichen bestimmt, die hier lagen, bis sie an die Reihe kamen, um verbrannt zu werden.
Der ganze Boden ist mit halbverwesten Skeletten, Schädeln undKnochen bedeckt. Dies rührt nicht von einer planmäßigen Verbrennung her, sondern das ganze Gebäude wurde niedergebrannt: als die Deutschen die dritte Kammer anzündeten, verbrannten die dort aufgehäuften Leichen. Es sind ihrer viele, vielleicht Dutzende, vielleicht Hunderte – das ist schwer zu sagen, denn diese Menge halbverwester Knochen mit Stücken halbverbrannten Fleisches daran läßt sich nicht zählen.
Jetzt sind es nur noch wenige Schritte zum eigentlichen Krematorium. Es stellt ein großes Rechteck dar, gebaut aus feuerfesten Ziegeln, aus Dinassteinen. In diese Steinwand sind fünf große Feueröffnungen nebeneinander eingelassen mit hermetisch verschließbaren gußeisernen Ofentüren. Die runden Ofentüren stehen jetzt offen. Die tiefen Verbrennungsräume sind zur Hälfte,- mit verbrannten Knochen und Asche gefüllt. Vor den Öfen liegen auf dem Platz vor den Feueröffnungen halbverkohlte Menschenskelette, die die Deutschen verbrennen wollten und die nun durch die Feuersbrunst zerstört wurden. Vor drei Feueröffnungen liegen Männer- oderFrauenskelette, vor den beiden anderen liegen Skelette von Kindern im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren – nach der Größe zu urteilen. Vor jedem Feuerlochliegen fünf bis sechs Skelette. Das entspricht ihrem Fassungsvermögen: in jedenVerbrennungsraum wurden sechs Leichen auf einmal gestopft. Wenn die sechste Leiche nicht Platz fand, schlug die Verbrennungsmannschaft den nicht hineingehendenKörperteil – die Hand oder das Bein oder den Kopf – einfach ab und schloß darauf hermetisch die Ofentür. Im ganzen gibt es dort fünf Verbrennungsräume. Ihre Leistungsfähigkeit war sehr groß. Das Krematorium war so berechnet, daß die Verbrennung der Leichen innerhalb von fünfundvierzig Minuten erfolgte. Doch allmählich lernten es die Deutschen, denVerbrennungsprozeß zu beschleunigen, und verdoppelten durch Erhöhung der Temperatur die Leistungsfähigkeit: die Dauer der Leichenverbrennung wurde von fünfundvierzig Minuten auf fünfundzwanzig Minuten und sogar auf weniger verkürzt. Sachverständige haben bereits diese Dinassteine untersucht und an ihrer Deformierung und Strukturveränderung erkannt, daß die Temperatur hier überfünfzehnhundert Grad betrug. Als ergänzender Beweis dienen die gußeisernen Schieber, die auch deformiert und geschmolzen sind. Nehmen wir als Durchschnittan, daß die Verbrennung jeder Partie Leichen eine halbe Stunde dauerte, und fügen wir hinzu, daß nach übereinstimmenden Aussagen der Schornstein des Krematoriums vom Herbst 1943 an ununterbrochen Tag und Nacht rauchte und das Krematorium wie ein Hochofen keine Minute stillstand, dann ergibt sich, daß ungefähr,vierzehnhundert Leichen täglich verbrannt wurden. Zum Bau des Krematoriums sahen sich die Deutschen besonders auch durch dieVorgänge bei dem Fall »Katyn« genötigt. Sie fürchteten weitere Enthüllungen beider Öffnung der Gruben mit den verscharrten Leichen der Ermordeten, und deshalb unternahmen sie auf dem Gelände des Lubliner Lagers vom Herbst 1943 anumfangreiche Ausgrabungen. Sie gruben aus den vielen umliegenden Gräben die halbvermoderten Leichen der Erschossenen aus und verbrannten sie im Krematorium,um die Spuren endgültig zu verwischen. Die Asche und die verkohlten Knochen aus den Verbrennungsräumen des Krematoriumswurden in dieselben Gräben geschüttet, aus denen die Leichen ausgegraben wurden. Einer dieser Gräben ist schon geöffnet worden. Man fand dort eine fast meterdicke Aschenschicht.
Hinter dem Lager steht noch ein unvollendeter Block. Innerhalb des Stacheldrahts sind nur Ziegelfundamente zu sehen. Die Mauern sind noch nicht errichtet; nur eine Baracke ist fertiggebaut, aber nicht mit Pritschen versehen. Sie war unbewohnt, und dennoch wurde sie vielleicht zum grauenhaftesten Zeugen dessen, was hier vor sich ging. Diese einige Dutzend Meter lange und breite Baracke ist in ihrer ganzen Ausdehnung und in halber Deckenhöhe, d. h. über zwei Meter hoch, angefüllt mit dem Schuhzeug der hier im Laufe von drei Jahren hingerichteten Menschen. Es ist schwer zu sagen, wieviel Paar Schuhe hier liegen. Vielleicht eine Million, vielleicht mehr. Das Schuhzeug hat keinen Platz in der Baracke und fällt aus Fenstern und Türen heraus. An einer Stelle hat sein Gewicht die Wand durchgedrückt, und ein Stück der Wand ist zusammen mit einem Berg von Schuhen eingefallen. Hier finden wir alles: zerrissene russische Soldatenstiefel und polnische Militärstiefel, Männerschuhe und Damenhalbschuhe, Galoschen und vor allem – was das Furchtbarste ist – zehntausende Paar Kinderschuhe: Sandalen, Halbschuhe und Schuhchen für Zehnjährige, Achtjährige, Sechsjährige und Babyschuhe. Man kann sich kaum etwas Grauenvolleres vorstellen als dieses Bild. Ein furchtbares, stummes Zeugnis für die Ermordung Hunderttausender von Männern, Frauen und Kindern! Steigt man über diesen Schuhberg hinweg und gelangt in den rechten Winkel des Schuppens, findet man sogleich die Erklärung für das Bestehen dieses ungeheuerlichen Lagerraums. Hier sind Tausende, ja Zehntausende von Sohlen und Oberleder zusammengelegt und Lederstücke einzeln gesammelt. Hier wurde der Teil des Schuhwerks, der als Fußbekleidung schon unbrauchbar war, aufgetrennt und sortiert, und die Sohlen, Absätze und Oberleder wurden gesondert abgelegt. Wie alles im Todeslager hatte auch diese Sammelstelle ihren nutzbringenden Zweck: von den Ermordeten durfte nichts verlorengehen – weder ihre Kleider noch ihr Schuhzeug, noch ihre Knochen, noch ihre Asche.
In einem der großen Häuser in Lublin ist die letzte Abteilung des Lagers untergebracht. In Dutzenden von Räumen, in Dutzenden großer und kleiner Zimmer ist dort eine riesige Sortierungsstelle für alle Hinterlassenschaften der Ermordeten eingerichtet. In einem Zimmer sehen wir Zehntausende von Frauenkleidern, in einem anderen, einige zehntausend Paar Beinkleider, in einem dritten Zehntausende vonWäschestücken, in einem vierten Tausende von Damentäschchen, in einem fünften Zehntausende von Kinderanzügen und -kleidern, in einem sechsten Rasierzeug, in einem siebenten Mützen und Hüte. Ich sprach mit gefangenen Deutschen, die am Krematorium und an den Leichengräben vorbeikamen. Sie stritten ihre Teilnahme an all dem ab. Sie sagten, nicht sie hätten das getan, sondern die SS. Aber als ich später einen im Lager beschäftigten SS-Mann verhörte, behauptete er, daß die Massenhinrichtungen nicht die SS, sondernder SD, d. h. die Gestapo, vollzogen hätte. Die Gestapoleute hingegen beschuldigten die SS. Ich weiß nicht, wer von ihnen die Menschen verbrannte, wer sie schlechtweg erschlug, wer ihnen die Schuhe von den Füßen zog und wer die Damenwäsche und die Kinderkleidchen sortierte – ich weiß das nicht. Aber beim Anblick dieser Kleidersammelstelle denke ich daran, daß eine Nation,welche Leute hervorgebracht hat, die zu all dem fähig waren, sowohl die volleVerantwortung wie auch den Fluch für die Untaten ihrer Repräsentanten auf sich nehmen muß und nehmen wird. Die Geschichte des Lubliner »Vernichtungslagers« habe ich schon erzählt und sein heutiges Aussehen geschildert. Verweilen wir jetzt bei den Aussagen einzelner Zeugen, mit denen ich gesprochen habe. Ihre Aussagen umfassen vielleicht nur denhundertsten Teil jener Beweismittel, die später das Material für die Untersuchungskommission bilden werden. Ich sprach mit dem russischen kriegsgefangenen Arzt Baritschew, Oberarzt im Lagerlazarett für Kriegsgefangene, und auch mit einem Heilgehilfen desselben Lazaretts, mit Ingenieuren und Arbeitern aus der Zivilbevölkerung, die beim Bau des Lagers tätig waren, und mit Lagerinsassen, sowohl Häftlingen als auch Kriegsgefangenen; ich sprach ebenfalls mit den SS-Leuten, die das Lager bewachten. Aus all diesen Gesprächen erhielt ich ein Gesamtbild über das Leben im »Vernichtungslager«, über das man hier sprechen muß. Die erste Voraussetzung, von der die im Lager herrschenden SS-Leute ausgingen, war folgende: alle, die ins Lager kommen, seien es Kriegsgefangene oder Häftlinge aus der Zivilbevölkerung, seien es Russen, Ukrainer, Polen, Bjelorussen oder Juden, Franzosen oder Griechen usw., sie alle werden früher oder später umgebrachtwerden, nie wird einer lebend aus diesem Lager herauskommen und erzählen können,was dort vor sich geht. Diese erste Voraussetzung bestimmte sowohl das Vorgehen der Wachmannschaft als auch die Methoden für die Ausrottung der Menschen in diesem Lager. Die Toten sind stumm und können nichts mehr erzählen. Sie können von keinen Einzelheiten berichten und diese Einzelheiten mit Dokumenten belegen.
Daher wird niemand Beweise in der Hand haben, und das war, nach Auffassung der Deutschen, das Wichtigste. Natürlich konnten Berichte über das Lager als Ganzes, als Todeslager, zu der Bevölkerung der Umgegend dringen, aber das beunruhigte die Deutschen nicht. Sie fühlten sich in Polen wie zu Hause. Das »Polnische Generalgouvernement« war für sie ein für immer erobertes Land. Die, die hier amLeben geblieben waren, sollten vor allem vor den Deutschen Angst haben, und deshalb waren die entsetzlichen Gerüchte, die über das Lubliner Lager in ganz Polen umgingen, den Deutschen sogar erwünscht. Der Leichengeruch, der an Tagen besonders großer Massenmorde aus dem Lager in die Umgebung drang und die Menschen sogar in Lublin zwang, sich Tücher vors Gesicht zu halten, flößte den Bewohnern der Umgegend Furcht ein. Das sollte ganz Polen eine Vorstellung vermitteln von der Stärke der deutschen Herrschaft und von den Schrecken, denen alle, die Widerstand zu leisten wagten, ausgeliefert waren. Die Rauchsäule, die wochen und monatelangüber dem hohen Schornstein des Hauptkrematoriums stand, war weithin sichtbar, aber das störte die Deutschen nicht. Dieser entsetzliche Rauch sollte ebenso wie der Leichengeruch der Bevölkerung Schrecken einflößen. Tausendköpfige Menschenkolonnen marschierten vor aller Augen über die Cholmer Landstraße, und hatte sich das Tor des Lubliner Lagers hinter ihnen geschlossen, kehrten sie nie wieder von dortzurück. Auch das sollte die Stärke der Deutschen beweisen, die meinten, sich alles, was ihnen beliebte, erlauben zu können und sich dafür vor niemandem verantworten zu müssen. Ich möchte meinen Bericht mit der Beschreibung der »humansten« Einrichtung desLagers, dem Lazarett, beginnen. Alle ins Lager Eingelieferten kamen, bevor sie in die allgemeinen Baracken übergeführt wurden, laut strengster medizinischer Vorschrift für 21 Tage unter Quarantäne. Das entsprach fraglos den Erfordernissen der Hygiene. Hier muß man nur eine Kleinigkeit hinzufügen: alle Kriegsgefangenen, die unter Quarantäne ins Lazarett kamen, wurden laut Befehl der Lagerkommandantur ausschließlich in Baracken untergebracht, in denen Kranke mit offener Tuberkulose lagen.
In jede dieser schrecklich überfüllten Baracken, wo zweihundert Kranke mit offener Tuberkulose lagen, wurden noch je zweihundert Menschen hineingepfercht, die unter Quarantäne standen. Wenn man diese kleine Einzelheit berücksichtigt, so wird es verständlich, daß die Todesursache bei 70 bis 80 Prozent der Menschen, die im Lager sozusagen eines natürlichen Todes starben, Tuberkulose war. Eigentlich war das Lazarett nichts weiter als eine Abteilung des»Vernichtungslagers«. Hier wandten die Deutschen Mordmethoden an, die manchmal schneller wirkten als die in den gewöhnlichen Baracken. Wenn man überhaupt von den Methoden der Ermordung spricht, so muß bemerkt werden, daß sie äußerst mannigfaltig waren und entsprechend der Vergrößerung des Lagers progressiv zunahmen. Der erste Platz für die Massenausrottung war eine Bretterbude, die anfangs, als das Lager gebaut wurde, zwischen zwei Reihen Stacheldraht errichtet wurde. Durch diese Bretterbude lief unter der Decke ein langer Balken, an dem ständig acht Lederschlingen hingen. Hier wurden alle Entkräfteten erhängt. In der ersten Zeit gab es im Lager nicht genügend Arbeitskräfte, und die SS-Leute konnten nicht einfach zu ihrem Vergnügen töten. Sie töteten keinen Gesunden. Sie erhängten nur diejenigen, die durch Hunger und Krankheiten entkräftet waren. Dabei hatten die Kriegsgefangenen eine Vergünstigung. In dieser Bretterbude wurden nur Häftlinge aus der Zivilbevölkerung erhängt. Die Gruppen der entkräfteten und zur Arbeit untauglichen Kriegsgefangenen wurden aus dem Lager hinausgeführt und erschossen. Kriegsgefangene wurden nur dann erhängt, wenn keine ganze Gruppe zusammengestellt werden konnte und es sich nicht lohnte, einen oder zwei Mann in den Wald zuführen. Da wurden ein bis zwei Kriegsgefangene zusammen mit den Häftlingenerhängt. Bald war das erste primitive Krematorium aus zwei Öfen, von dem schonfrüher die Rede war, fertiggestellt. Die Gaskammer kam erst später zur Anwendung,sie war noch nicht fertiggebaut.
Zu dieser Zeit war die Hauptmethode zur Ermordung der Kranken und Geschwächten folgende: an das Krematorium wurde ein kleines Zimmer mit sehr engem und niedrigem Eingang angebaut. Dieser Eingang war so niedrig, daß sich der Eintretende unbedingt bücken mußte. Zwei SS-Leute standen zu beiden Seiten der Tür, und jeder von ihnen hielt eine kurze und schwere Eisenstange in der Hand. Wenn der Mensch, der durch die Tür gehen sollte, mit gebeugtem Kopf eintrat, erhielt er von einem SS-Mann einen Schlag mit der Eisenstange gegen den Halswirbel. Wenn der eine SS-Mann daneben schlug, half der andere nach. Wenn das Opfer dann noch nicht tot war, sondern nur die Besinnung verlor, hatte das keine Bedeutung. Der Gestürzte galt als tot und kam in den Verbrennungsraum des Krematoriums. Allgemein bestand im Lager folgende Regel: wer hingefallen war und nicht mehr aufstehen konnte, galt als tot. Manchmal wurden die erschöpften Opfer stundenlang in den Hof getrieben, damit sie in der Kälte umkamen. Hier muß noch die sogenannte Abendgymnastik erwähnt werden. Sie bestand darin, daß die Leute, die ohnehin entkräftet und durch den Arbeitstagaufs äußerste erschöpft waren, nach der abendlichen Kontrolle gezwungen wurden, anderthalb Stunden lang durch kniehohen Morast – im Winter durch den Schnee und im Sommer in der Hitze – um den ganzen Wohnblock zu rennen. Dieser Weg ist über einen Kilometer lang. Am Morgen wurden die Leichen, die am Zaun des Blocks lagen,eingesammelt. Das waren sozusagen die üblichen, alltäglichen Tötungsmethoden. Aber die Bestien, die schon Menschenblut geschmeckt hatten, benügten sich nicht mitgewöhnlichen Methoden. Die Ermordung ihrer Opfer war nicht nur eine Arbeit,sondern auch eine Zerstreuung. Wir wollen nicht über die »Zerstreuungen« sprechen, die in allen deutschen Lagern üblich waren, wie z. B. das Schießen von denWachtürmen auf Häftlinge, die als Zielscheibe dienten, oder das Totprügeln von Hunderten halb verhungerter Menschen, wenn sie sich auf ihnen hingeworfene Knochen stürzten. Wir erwähnen hier nur einige Zerstreuungen, die typisch für das LublinerLager waren.
Der erste »geistreiche Spaß« sah so aus: einer der SS-Leute schikanierte irgendeinen Häftling und erklärte, daß dieser die Lagerordnung verletzt habe und deshalb erschossen werde. Der Häftling wurde an die Wand gestellt, und der SS-Mann zielte mit seinem Parabellum auf dessen Stirn. In Erwartung des Schusses schloß das Opfer in 99 Fällen von 100 instinktiv die Augen. Da schoß der SS-Mann in die Luft, während ein anderer SS-Mann, der sich inzwischen unbemerkt an den Häftling her angeschlichen hatte, ihm mit einem dicken Brett einen Schlag auf den Kopf versetzte. Der Häftling verlor die Besinnung und fiel hin: Wenn er dann ein paarMinuten später zu sich kam und die Augen öffnete, sagten die vor ihm stehenden SS-Leute lachend: »Siehst du, jetzt bist du im Jenseits. Auch auf der anderen Welt sind Deutsche. Wie du siehst, kannst du dich vor ihnen nirgends retten.« Da der blutüberströmte Mensch gewöhnlich nicht mehr die Kraft hatte, sich zu erheben, so galt er als dem Tode verfallen und wurde schließlich und endlich, nach dem man sich so ergötzt hatte, erschossen. Der »Spaß« Nr. 2 wurde in einem großen Wasserbecken durchgeführt, das sich in einer der Lagerbaracken befand. Der Häftling, den man als Schuldigen auserkor, wurde ausgezogen und in dieses Becken gestoßen. Er versuchte, wieder nach oben zu kommen und aus dem Becken zu klettern. Die SS-Leute, die in seiner Nähe standen, stießen ihn mit ihren Stiefeln wieder ins Wasser zurück. Wenn es ihm gelang, den Schlägen zu entgehen, hatte er das Recht, wieder herauszuklettern. Dabei mußte er aber noch eine Bedingung erfüllen: sich in drei Sekunden völlig ankleiden. Die SS-Leute kontrollierten das mit der Uhr in der Hand. Natürlich konnte sich niemand in drei Sekunden ankleiden. Und er wurde wieder ins Wasser gestoßen, wurde von neuem gequält, bis er ertrank. Der »Spaß«Nr. 3 hatte unbedingt den Tod des Opfers zur Folge, an dem man sich ergötzte. Bevor der Schuldige umgebracht wurde, führte man ihn in die Wäscherei zur silbrigglänzenden Wringmaschine und zwang ihn, die Fingerspitzen zwischen die schweren Gummirollen zu stecken.
Dann begann einer der SS-Leute oder auf ihren Befehl einer der Häftlinge, die Kurbel der Maschine zu drehen. Der Arm des Opfers wurde bis zum Ellbogen oder bis zur Schulter in diese Maschine gepreßt. Das Geschrei des Gemarterten war dabei der Hauptspaß. Selbstverständlich wurde ein Mensch mit zerquetschtem Arm, wie jeder andere, der nicht arbeitsfähig war, gleich nach der Marter umgebracht. Die hier aufgezählten »Vergnügungen« waren sozusagen allgemein üblich. Einzelne SS-Leute ergötzten sich noch auf ihre besondere Art. Ich will nur ein Beispiel anführen, das von zwei Zeugen bestätigt wird. Einer der SS-Leute, der die Arbeiter beim Bau des neuen Krematoriums bewachte, ein neunzehnjähriger Bursche, trat ohne jeden Grund an den gesündesten und hübschesten der dort Arbeitenden heran, befahl ihm, sich zu bücken, und schlug ihn mit aller Kraft mit einem Knüppel auf den Hals. Als jener hinfiel, befahl der SS-Mann zwei anderen Häftlingen, den am BodenLiegenden an den Füßen zu nehmen und ihn mit dem Gesicht nach unten umherzuschleifen, damit er wieder zu sich komme. Als man ihn jedoch hundert Meter über den gefrorenen Boden geschleift hatte, war er noch nicht zu sich gekommen und lag regungslos. Da packte der SS-Mann ein hohles Zementrohr, das für dieKanalisation bestimmt war, hob es auf und warf es dem am Boden Liegenden auf denRücken. Dann hob er das Rohr wieder auf, warf es wieder, und das wiederholte er fünf mal. Nach dem ersten Schlag mit dem Rohr zuckte der am Boden Liegende im Todeskrampf. Nach dem zweiten Schlag war er wieder reglos. Nach dem fünften Schlagbefahl der SS-Mann, ihn umzudrehen, und schob ihm mit seinem Stock die Augenlider hoch. Als sich der SS-Mann überzeugt hatte, daß sein Opfer tot war, spie er aus, zündete sich eine Zigarette an und ging seines Wegs, als ob nichts geschehen wäre. Nebenbei gesagt, war das nicht nur das Resultat seiner persönlichen ungeheuerlichen Veranlagung. In den Herbst- und Wintermonaten 1943 hielt es jederSS-Mann für seine Pflicht, damit zu prahlen, daß er am Tage nicht weniger als fünf Häftlinge umgebracht habe. Ich möchte noch über die Frauen sprechen.
In manchen Monaten waren im Lager bis zu zehntausend Frauen. Sie wurden genau so wie die Männer behandelt, nur mit dem einen Unterschied, daß sie von SS-Weibern bewacht wurden. Ich will über eine dieser Furien erzählen, die im Unteroffiziersrang stand und Oberaufseherin der Frauenbaracken war. Leider ist es bisher noch nicht gelungen, ihren Namen festzustellen, weil sie bei allen einfach nur unter der verstümmelten deutschen Bezeichnung »Lagerseherka« bekannt war. Diese »Lagerseherka« erschien nie ohne eine Peitsche. Ein zwei Meter langer, elastischer Stahldraht, umwickelt mit Gummi und mit Leder bespannt – das war die Peitsche. Die »Lagerseherka« war eine mißgestaltete hagere Megäre, die sich durch perversen Sadismus auszeichnete und halb verrückt war. Bei der Morgen- und Abendkontrolle suchte sie unter den erschöpften und abgemagerten Frauen die hübscheste aus, die noch mehr oder minder menschlich aussah, und schlug sie grundlos mit der Peitsche auf die Brust. Wenn das Opfer, von diesem Schlag getroffen, zu Boden fiel, erhielt es einen zweiten Peitschenschlag zwischen die Beine, wohin dann ein dritter Stoß mit dem beschlagenen Stiefel folgte. Gewöhnlich konnte sich eine solche Frau nicht mehr erheben und mußte, bevor sie aufstand, noch lange auf dem Boden kriechen, wobei sie Blutspuren hinterließ. Nach eineroder zwei solcher Mißhandlungen wurden die Frauen zu Krüppeln und starben bald. Es fällt schwer, über all das zu sprechen. Es bleibt nur noch zu hoffen, daß dieses entsetzliche Geschöpf und Tausende, die ihr gleichen, beim Namen genannt, ausfindig gemacht und hingerichtet werden, also wenigstens den hundertsten Teil der verdienten Strafe büßen werden.
Bisher sprachen wir über die Martern und den Tod jener, die eine mehr oder minderlange Zeit im Lager waren. Aber das Lager bei Lublin war eine echte Todesfabrik, und viele Menschen wurden hier sofort nach ihrem Eintreffen umgebracht. Solche sind in drei Jahren zu Hunderttausenden durch dieses Lager gegangen. Fast täglichwurden Opfer aufs Todesfeld geführt. In den Nächten ratterten innerhalb des Lagers Traktoren, eigens angekurbelt, um das Knattern der automatischen Pistolen und die Schreie der zu Tode Getroffenen zu übertönen. Wenn der Traktor zu rattern begann, wußten im Lager alle, daß für Tausende die letzte Stunde geschlagen hat. Wir wollen nur ein paar Worte über eine einzige dieser Erschießungen sagen, über die größte Erschießung, die am 3. November 1943 vor sich ging. Frühmorgens wurde die ganze Wache alarmiert und das Lager durch eine Doppelkette von Gestapoleuten abgesperrt. Von der Cholmer Landstraße zog sich durch das Lager ein endloser Menschenzug, dessen Reihen aus je fünf an den Händen zusammen gebundenen Personen bestanden. Ihre Zahl betrug an diesem Tage achtzehntausend. Die eine Hälfte bestand aus Männern, die andere aus Frauen undKindern. Die Kinder bis zu acht Jahren gingen zusammen mit den Frauen, die älteren Kinder bildeten eine Gruppe für sich. Sie gingen auch zu fünft in einer Reihe undwaren ebenfalls an den Händen zusammengebunden. Zwei Stunden, nachdem die Spitze des Zuges im Lager verschwunden war, ertönte im ganzen Lager und in seiner Umgebung Musik. Aus Dutzenden von Lautsprechern schallten ohrenbetäubende Foxtrotts und Tangos. Das Radio spielte den ganzen Morgen, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Diese achtzehntausend Personen wurden auf offenem Feld neben dem neuen Krematorium erschossen. Einige zwei Meter breite und mehrere hundert Meter lange Gräben wurden ausgehoben. Zunächst wurden alle dem Tode Geweihten völlig ausgezogen und mußten sich nackt in diese Gräben legen. Kaum lag eine Reihe Menschen im Graben, wurden sie aus automatischen Pistolen von oben erschossen. Dann wurde die zweite Schicht hineingelegt, und wieder begann die Erschießung. Und das dauerte so lange, – bis der Graben angefüllt war. Dann mußten die am Leben Gebliebenen diesen Graben mit Erde zuschütten, und sie selbst kamen in den nächsten Graben, wo nun sie erschossen wurden. Nur die letzte Reihe der Ermordetenin dem letzten Graben wurde von den Gestapoleuten selbst zugeschüttet. Man vergrubsie so, daß sie nur mit einer dünnen Erdschicht bedeckt waren.
Am nächsten Tag begann man, die Leichen der Ermordeten mit ungewöhnlicher Hast ind en Öfen des neuen Krematoriums zu verbrennen. Auf diese Weise brachten die Deutschen an einem Tag achtzehntausend Menschen um. Zum Schluß müssen noch zwei Deutsche erwähnt werden, oder richtiger, ein Deutscher und eine Deutsche, die gefangengenommen worden sind. Der Deutsche hatte direkt, die Deutsche indirekt damit zu tun, was im Todeslager vorging. Der Deutsche heißt Theodor Schollen. Ihn hat noch nicht die verdiente Strafe ereilt, er lebt noch. Er ist 41 Jahre alt. Geboren ist er in Düsseldorf. 1937 trat er in die Nationalsozialistische Partei und später in eine SS-Abteilung ein. Im Juli 1942 kam er im Lubliner Lager an und wurde dort Rottenführer der SS. Seinem Beruf nach ist er Fleischer aus dem Berliner Schlachthaus, und im Lager übte er das Amt eines Verwalters aus. Zu seinen Pflichten gehörte es, die im Lager eintreffenden Häftlinge auszuziehen, zu durchsuchen, ihnen ihre Kleider abzunehmen, bevor sie in die Gaskammer geschickt wurden. Er nennt sich Lagerverwalter und sagt, daß er derSS-Abteilung irrtümlich in betrunkenem Zustand beigetreten sei. Er sagt, daß er sich zu den Häftlingen äußerst human benommen habe, und plärrt, wenn bei der Gegenüberstellung die Zeugen, die durch seine Hände gegangen sind, ihn daran erinnern, wie er auf der Suche nach Brillanten, die in der Zahnhöhle versteckt sein konnten, mit einer Schlosserzange den Leuten die Zähne herausgerissen und die Goldkronen von den Zähnen gebrochen hat, die in den amtlichen Listen über die abgenommenen Gegenstände nicht geführt wurden und die er sich also aneignen konnte. Er schwört, daß er nichts weiter als Unteroffizier bei der SS war und die Menschen von dem SD, d. h. Gestapo, umgebracht wurden. Als er entlarvt wird, lügt er und vergießt so dicke Tränen, daß ihm ein naiver Mensch im ersten Augenblick glauben könnte. Das über den Deutschen.
Nun zu der Deutschen. Sie heißt Edith Schostek, ist einundzwanzig Jahre alt und stammt aus Mitteldeutschland. Sie kam vor zwei Jahren nach Lublin laut Gesetz, nach dem alle deutschen Mädchen, die neunzehn Jahre alt geworden sind, für den Staat arbeiten müssen. Sie kam für ein Jahr und blieb zwei Jahre. Sie mordete nicht und schlug die Frauen nicht mit der Peitsche vor die Brust. Sie war nur eine Stenotypistin beim deutschen Direktor des Lubliner Kraftwerks, und ihre Hände sind nicht mit Blut befleckt. Aber wie wir sie eingehend verhören, stellt sich eine Kleinigkeit heraus. Sie und ihre Schwester, die auch in Lublin arbeitete, erhielten als zusätzliche Entschädigung Kleidungsstücke aus jener Sammelstelle für die Hinterlassenschaft der Hingerichteten, die dem Leser schon bekannt ist. Sie und ihre Schwester erhielten von dort Spitzen und Schuhe. Andere erhielten vielleicht Wäsche und Kleider. Wieder andere, die Kinder hatten, bekamen Kinderhemdchen und Schuhe der ermordeten Kinder. So schließt sich die Kette, die ganz Deutschland umspannt. An einem Ende dieserKette steht der Henker Theodor Schollen, der den Leuten die Goldzähne heraus riß und sie in die Gaskammer stieß, am anderen Ende der Kette steht Edith Schostek, die lediglich für ihre Arbeit die Kleidungsstücke der Ermordeten erhielt. Sie stehen an verschiedenen Enden der Kette, aber es ist die gleiche Kette. Mehr oder minder werden sich alle verantworten müssen. Mögen sie einander nicht die Schuld in die Schuhe schieben. Mögen sie ein für allemal begreifen: sie alle werden für ihre Taten einstehen müssen.